Die Flatterhaftigkeit des Seins

Quelle: museen.köln – Das Magazin, Ausgabe 1/2025, Seiten 60 bis 63

Text: Mark Benecke | Illustrationen: Kat Menschik

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Manche stören sich am krähenden Gesang der kölschen Sittiche. Ich hingegen liebe sie, wie sie sind. Abends fahre ich sie mit meinem Klapprad am Rheinufer besuchen, wenn sie lustig schaukelnd in den Bäumen zwischen Heumarkt und Dom ihr Nachtlager beziehen. Bei Tageslicht sind sie: unfütterbar, pfeilschnell, an Menschen nicht die Bohne interessiert. Sie machen ihr Ding. Auch eine Haltung.

Die Rede ist von Alexandersittichen, die meist in Schwärmen durch Köln rasen. Laut und lebenslustig wie diese bekloppte Stadt. Schon im 14. Jahrhundert zitiert der Weltgeistliche Konrad von Megenberg seinerseits Aristoteles in seinem »Buch der Natur« mit der Feststellung, »dass der Alexandersittich gerne Wein trinke und ein sehr unkeuscher Vogel« sei. »Der Wein«, so erklärt der Priester dazu, »ist die Ursache der Unkeuschheit, Aristoteles sagt, dass der Vogel, wenn er vom Wein trunken ist, gerne Jungfrauen ansehe und sich an ihrem Anblick erfreue.« Ein echt kölscher Charakter, dieser Sittich. Und da sich niemand einen Vogel zu Hause halten sollte, halten wir sie uns alle schön gemeinsam – in unserem Veedel, in den öffentlichen Parks.

Ursprünglich lebten die grünen Edelpapageien in Afrika, Indien und Asien. Halsbandsittiche und Alexandersittiche, die ich hier wegen ihrer nahen Verwandtschaft zusammenwerfe, waren dort schon lange in Käfigen gehalten worden. »Es gibt zahlreiche literarische und Bildbelege aus der Antike und aus dem byzantinischen Einflussgebiet«, berichtet mein tierkundlicher Kollege Ragnar Kinzelbach von der Uni Rostock. »Seit dem Feldzug Alexanders des Großen vom Frühjahr 334 bis März 324 vor unserer Zeitrechnung kamen Halsbandsittiche aus dem nördlichen Indien und dem Sudan vor allem nach Alexandria und Rom. Im Mittelalter tauchte der Halsbandsittich regelmäßig als ›der Papagei‹ in Büchern über alle möglichen interessanten Wesen auf.«

Verarbeitete Halsbandsittichhäute wurden als Kopfschmuck getragen, und es galt als schick, sich wie der Vogel zu nennen: Man hieß dann offiziell »Sittich« und verwendete sein Bild in Wappenbildern. Auch ich nutze ein solches Wappenbild mit Alexandersittich als jahreszeitlich wechselnden Anhang unter E-Mails: Mal sitzt mein Sittich auf einem beschneiten, mal auf einem erblühten Birnbaum mit Früchten. Die Liebe zum als Haustier gehaltenen Halsbandsittich währte bis ins 16. Jahrhundert. »Danach«, so Kollege Kinzelbach, »traten nach der Einfuhr amerikanischer Papageien durch Kolumbus auch alle anderen jeweils verfügbaren Papageienarten auf Altarbildern, besonders zusammen mit dem Jesuskind, auf.« Zur zeitlichen Einordnung: Die heute bekannten Wellensittiche kamen erst 300 Jahre später, Mitte des 19. Jahrhunderts, nach Deutschland. Alexandersittiche, die heute zu Tausenden frei im Rheinland leben, sind also die ursprünglichen und eigentlichen »bunten Vögel«. Die knallbunten Ara-Papageien, wie wir sie noch in meiner Kindheit auf der Schulter von Piraten und Seebären im Comic kannten, erschienen erst später.

In Köln wurden freilebende Alexandersittiche erstmals Ende der 1960er Jahre gesichtet. Sie tauchten nahe und auf dem Gelände des Zoologischen Gartens auf. »Ein neuseeländischer Pfleger«, fand meine Kollegin Ulrike Ernst in den 1990er Jahren heraus, »hatte 1967 sechs Alexandersittiche gezähmt und im Kölner Zoo frei fliegen lassen. Sie kehrten nur zur Fütterung in den offenen Käfig zurück.« Bis dahin hatte die Besiedlung Kölns durch den Alexandersittich ziemliche Umwege genommen. Die ersten Tiere waren zwischen 1901 und 1908 aus dem Zoo von Gizeh in Ägypten geflohen. Sie kamen dann aber nicht vom heißen Süden her ins warme Rheinland, sondern wanderten aus dem Norden hier ein. Vermutlich hatten Seeleute die grasgrünen Gesellen als Souvenir aus der tropischen Ferne in englische Hafenstädte mitgebracht. Das passt mit der Verbreitung der Alexandersittiche in Europa zusammen – die nämlich zunächst an britischen Küstenstreifen siedelten. Weitere Gruppen hatten derweil schon nach Belgien und in die Niederlande rübergemacht. 1975 sah und hörte man sie dann lautstark erstmals im rheinischen Brühl im Schlosspark. Wie schon erwähnt, sind die Tiere ohrenbetäubend laut.. Aber ich liebe ihr fröhliches Schreien schon allein deshalb, weil es der Sound meiner Heimat Köln ist. Heute gelten Alexandersittiche in Europa als typische Stadtbewohner. In Düsseldorf heißen sie nach der schnieken und baumbestandenen Königsallee, wo sie tagsüber oft anzutreffen sind, »Kö-Papageien«. In Köln lebten sie in den 2010er Jahren in der Südstadt im Trude-Herr-Park, benannt nach der in Köln geborenen Volksschauspielerin, die um die Ecke des Parkes ihr eigenes Theater betrieb. Ich war bei Trude Herrs Trauerfeier in ihrem ehemaligen Theater, das heute ein Kino ist: Die Anwesenheit der wilden Vögel dort hätte ihr, die selber einer war, sicher gefallen.

Wie die meisten Kölner*innen verschwenden Alexandersittiche alles Mögliche, besonders ihr Futter. Das passt schon wieder, denn im katholisch gefärbten, rheinischen Karneval werfen die an den Umzügen (»Zööch«) teilnehmenden Jecken tonnenweise Süßigkeiten in die Menge. Schokolade, Bonbons, früher sogar das Duftwasser 4711. Mehr Verschwendung geht nicht.

Die Freude am Verschenken teilen Kölner*innen wirklich mit den Sittichen. Besonders, wenn die grünen Vögel verliebt sind, schenken sie sich gegenseitig Futter. Während das Füttern von Partner*innen auch bei menschlichen Tieren verbreitet ist – man denke nur an die aussterbende, bei Älteren aber noch weit verbreitete Sitte, dass Männer im Restaurant möglichst die Rechnung zahlen wollen und sollen –, geht die Nahrungsmittelverteilung bei den Sittichen deutlich weiter. Sie verstreuen die Nahrung nämlich auch in der Gegend. Weshalb die Fachliteratur Alexandersittiche als »Schlemmer und Schlamper« beschreibt.

Das finde ich lustig. Denn Alexandersittiche haben sich ausgerechnet entlang des römischen Straßennetzes verteilt, wo schmausende Lebenslust ihre Blüte erlebte. Krüge mit Fischsauce, der damaligen Entsprechung unseres heutigen Ketchups (»passt zu allem«), gelangten deswegen hunderttausendfach an den Rhein. »Schiffsladungsweise wurden die Delikatessen in Amphoren angelandet«, so das Römisch-Germanische Museum. »Die Tonbehälter, die man als antike Einwegverpackungen bezeichnen kann, wurden später zerschlagen und entsorgt. Wein kam aus Kleinasien, Griechenland und Südfrankreich, Olivenöl bezog man aus Südspanien, Portugal und Tunesien, und Garum, die beliebte salzige Fischsauce, wurde aus Spanien, Portugal und Süditalien beschafft.« Die sogenannte appische Straße der Römer*innen führte in ihren Verlängerungen aus Italien über Rom und Innsbruck (Veldidena) auch nach Wiesbaden (Aquae Mattiacorum), Köln (Colonia Agrippina) und London (Lundinium). Allsamt Orte, an denen heute Sittiche vergnügt leben.

Ob die identischen Verbreitungslinien der verschwenderischen Vögel, Römer*innen Zufall sind oder nicht – das können Sie gerne selbst entscheiden. Mir gefällt die Idee. Schließlich bin ich von Herzen Kölner und halte es mit der Lebenslust der Sittiche.