Quelle: Theater Altenburg Gera, Corpus | Ballett in einem Akt | Choreografie von Silvana Schröder | Uraufführung
Ein Interview mit Dr. Mark Benecke
Das Interview gibt es hier als .pdf.
„Corpus“ – ein lateinisches Wort, das sowohl den anatomischen, fleischlichen Körper eines Tieres oder Menschen als auch auf ein kultur-politisches, kollektives Konstrukt bezeichnen kann. Silvana Schröders Neukreation bezieht beide Komponenten ein: Einerseits geht es um eine Ergründung des menschlichen Körpers mit all seinen unterschiedlichen Funktionen mittels assoziativer Tanzbilder, welche ein ganzes Leben beschreiben. Andererseits thematisiert das Ballett auch den Menschen als ein sozialisiertes Wesen, das in einem bestimmten Kulturkreis aufwächst, durch sein Umfeld individuell geprägt wird und persönliche Beziehungen entwickelt.
In einem Interview mit Deutschlands wohl berühmtesten Kriminalbiologen, haben wir uns auf Spurensuche begeben, um so manchen (Ab-)Sonderlichkeiten des menschlichen Körpers auf den Grund zu gehen...
Lieber Mark, Du bist Kriminalbiologe, Insektenforscher und gerichtsmedizinischer Sachverständiger. Wann ist der Funke für diese Tätigkeiten übergesprungen – gab es ein besonderes Erlebnis?
Als Kind durfte ich mit dem Chemie-Kasten spielen, das fanden alle normal. Mein Vater hat mir sogar einen Klapptisch gebaut (mein Zimmer war klein), so dass ich mit dem sehr einfachen Bunsenbrenner, der nur ein Alu-Gefäß mit Brennspiritus darin war, keine Löcher in den Teppich brenne. Einen Detektivkasten hatte ich auch und habe so schon früh Filme aufrollen und Fotos entwickeln gelernt, das ging ja früher nur chemisch.
Irgendwann habe ich dann im Biologie-Studium ein Praktikum im Institut für Rechtsmedizin gemacht, weil nur dort genetische Fingerabdrücke erstellt wurden – das war für die Biologinnen und Biologen noch viel zu teuer. Der Leichen-Lagerungs- und -Untersuchungsraum war in derselben Etage wie unsere kriminalbiologischen Labore, ich war am Wochenende immer dort und habe auch später meine Doktorarbeit als Biologe im selben Labor gemacht. Es war also ein fließender Weg in die Forensik, (falls es diesen Begriff vom fließenden Weg gibt; ein Übergang war es jedenfalls nicht, sondern wirklich eher ein gewässerartiges Hin- und Her- und Zu- und Abfließen von Wissen und Techniken über die Jahrzehnte).
Insekten an Leichen waren im Leichenkeller sowieso immer da, schon alleine wegen der Faulleichen, die ja meist zunächst eine ungeklärte Todesursache haben und daher nochmal im Institut für Rechtsmedizin angesehen werden. Die insektenbesiedelten Leichen haben wirklich nur mich interessiert, vielleicht, weil ich Leben so mag? So durfte ich also absammeln, was ich wollte, und habe die Larven dann „ausgezüchtet“, also geschaut, welches Tier nach welcher Zeit aus welcher Larve entsteht: Käfer, Fliege, sonst was? Und warum genau an dieser Leiche und nicht an der anderen?
Du bist auch bekennender Tattoo-Liebhaber. Hast Du dadurch ein schärferes Bewusstsein für Deinen eigenen Körper entwickelt?
Ich bin eher ungeschickt beim Gehen und stoße oft gegen Türklinken. Mir fällt auch oft was runter, obwohl ich dachte, ich habe es fest in der Hand. Nur am Vergrößerungsgerät klappt es super, da kann ich auch kleinste Dinge ruhig auseinander- oder zusammen fügen.
Tanzen kann ich überhaupt nicht, beim Karussell fahren wird mir immer schlecht, es ist schwierig.
Meine Frau lässt sich mit riesigen Schwungarmen auf der Kirmes herumschleudern und tanzt auch mit hohem Alkoholgehalt im Blut zauberhaft, aber mein Körperbewußtsein reicht dafür nicht. Ich schaue aber gerne zu! Meine Mitsängerin Bianca Stücker, mit der ich im letzten Jahr ein schickes Leonard-Cohen-Album gemacht habe, ist sogar Tribal-Fusion-Lehrerin, das ist richtig toll anzuschauen.
Sowohl im Tanz als auch zur Orientierung im Alltag sind die Sinne für uns maßgeblich. Gibt es eine ‚Hierarchie‘ der Sinne hinsichtlich ihrer Wichtigkeit in ihrem täglichen Einsatz?
Mir scheinen alle Sinne gleich interessant zu sein. Natürlich ändern sich Reizwahrnehmungen je nach Veränderung und persönlichen Vorlieben, aber das ist alles schon sehr hart verdrahtet. Beispielsweise liebe ich Regen und Blätter-Rascheln von lebenden Bäumen. „Oh, ein Naturfreund“, könnten Menschen da denken. Andererseits lieben viele Menschen mit Angelman-Syndrom, einer genetisch festgelegten Besonderheit, Wasser-Spiegelungen, schwimmen sehr gerne und sind einfach Wasser-Fans. Welcher Sinn bedingt also welches Verhalten, welche Erfahrung wirkt auf welchen Sinn und wieviel Spielraum haben wir? Ich erlebe beispielsweise vieles, was andere im Wachen tun, im Schlaf – Unternehmungen mit Freundinnen und Freunden zum Beispiel. Ist das echt oder nicht? „Gelten“ diese Eindrücke? Ist das echtes Hören oder Fühlen oder nicht?
Ist jeder Mensch musikalisch veranlagt? Und woher kommt der Wunsch, selbst zu musizieren oder Musik zu hören?
Oh! Musik scheint etwas sehr Tiefes zu sein – gut zu erkennen an dem, was nahezu alle Menschen als harmonische Ton-Zusammenstellungen ansehen und was nicht. Wie kann das so gleich sein? An der Erziehung kann es ja nicht liegen, die ist ja über Raum und Zeit sehr verschieden. Und was ist mit Moll und Dur? Warum empfinden alle Menschen Dur als fröhlicher? Warum hauen Kinder und manche Vögel gerne auf Trommeln und singen Lieder? Und warum empfinden die meisten Menschen gemeinsames Musizieren als verbindend und manchmal sogar entrückend, schwebend, das Alltägliche aufhebend? Musik ist was ganz Tiefes.
Es gibt Kulturkreise, in denen ein Menschenleben eng an die fünf Elemente verknüpft betrachtet wird. Wie ist Deine Sichtweise auf diesen Gedanken?
Ich finde auch die Idee von Chakren gut und alles Mögliche dieser Art – solange mich niemand zwingt, es selbst anzuwenden oder zu glauben. Wenn Menschen sich mit der Natur, Elementen, Licht, Wasser oder sonst irgendetwas verbunden fühlen und dann auch danach leben (also nicht nur Rumlabern und gleichzeitig die Elemente verschwenden, verbrauchen und vergeuden), dann finde ich das spitze. Jedes Zurücknehmen des Selbsts und Austentakelns nach draußen, zu anderen, auch zu Elementen irgendeiner Art, ist zunächst mal gut.
Spielt Tanz in Deinem eigenen Leben eine Rolle?
Mega! Ich war auf einem Musik- und Ballett-Gymnasium und habe daher schon früh viele Aufführungen gesehen. Klassisches Ballett fand ich lame, aber die modernen Tanzgruppen sind in Köln früher wichtig gewesen, es gab auch ein eigenes Tanz-Archiv.
Wir hatten im Institut auch mal die Leiche eines Tänzers, der auf dem Geländer des Museums Ludwig getanzt war, bei einer Premieren-Feier oder ähnlichem, und herabstürzte. Zuerst dachten einige, das sei eingeplant, aber das war leider nicht der Fall. Er musste zur Überführung ins Heimatland mit Formalin haltbar gemacht werden, das hatte ich vorher noch nie gesehen.
Von Geburt an wird der Mensch durch einen kulturell kodierten, sozialen ‚Corpus‘ geprägt. In diesem Zusammenhang durchläuft er auch diverse Rituale: von religiösen Festlichkeiten über Familienfeste bis hin zur Alltagsroutine... Warum waren und sind Rituale für uns so wichtig?
Sie geben Dir Gewissheit, zu welcher Gruppe Du am engsten gehörst. Je besser Du ein Ritual verstehst oder magst oder schätzt, umso besser „passt“ es. Neugierige Menschen schauen sich verschiedene Religionen, Rituale und Alltagsabläufe an und übernehmen sie teils – das ist also auch praktisch, um Wissen oder Neuerungen in einen Rahmen zu bringen und auszuprobieren.
Natürlich wird dabei auch aus der Zeit gefallener Quatsch weiter übertragen, daher mag ich lieber heute so genannte „diverse“ Rituale, Religionen, Meinungen und Ansichten. Je mehr ich weltweit kennengelernt habe, umso mehr wurde mir (und allen anderen) der Kern des Ritualisierens klar: Ohne groß nachzudenken Wissen vermitteln. Manche tun sich aber schwer, diesen Kern zu ändern, wenn die Welt sich geändert hat. Andere nicht: Weihnachten ist nur noch eine Party (finde ich gut); bei Ostern weiß fast niemand mehr, worum es eigentlich mal gehen sollte und wie weit wir dabei in der Zeit zurück denken sollen; rituelle Drogen „profanieren“, der Schaitan wird nach einem Zwischenstadium als fürchterlicher Plagegeist jetzt ein geradezu „menschlicher“ Filmstar, zu dem es zehntausende Seiten Lucifer-Fan-Fiction gibt...
Ein Ritual und dessen Inhalt ist halt auch nur ein Mensch, um’s mal krumm auszudrücken: Ohne Menschen keine Rituale. Menschen allerdings sind auch nur den grundsätzlichen Regeln von Raum, Zeit und Energie zugeordnet. Sie kommen und gehen und werden schneller vergessen, als es sich Wichtigtuerinnen und Wichtigtuern, die ihre Macht aus Ritualen ableiten, wünschen oder vorstellen möchten.
Ich mag sie, die Rituale – meine Frau macht gerne ein Wunsch-Ritual zur Sonnenwende, da heulen und stauen viele darüber, wie sich ihre Wünsche und Hoffnungen gewandelt, erfüllt oder eben nicht erfüllt haben. Ein schönes Bad vor dem Schlafen ist ein tolles Ritual, und alle Menschen, die sich für ihre Hochzeit selbst ein zu ihnen passendes, ganz eigenes Ritual ausgedacht haben, mag ich auch. Nur sollten Rituale nicht mehr Gewicht und Gültigkeit haben als die Menschen, die sie durchführen.
Welche physischen Kriterien machen professionelle (Ballett-)Tänzerinnen und -tänzer zu Leistungssportlerinnen und - sportlern?
Alle. Ich will’s etwas weiter fassen. Da ist zunächst mal die vergleichsweise kurze Zeit, in der Leistungstänzerinnen und -tänzer ihre Blüte auf der Bühne erleben können — da machen ein paar durch Corona verlorene Bühnen-Jahre viel aus, wie ich gehört habe. Dann die superkurze Zeit, in der die eingeübten Fähigkeiten verschwinden können, wenn Profi-Tänzerinnen und -tänzer nicht üben. Das war immer ein Problem in Schulferien: Üben oder nicht? Außerdem die Schwierigkeiten mit Substanzen; bei Tänzerinnen und Tänzern waren das früher beispielweise Stoffe zum Abnehmen. Das ist bei allen Leistungssportlerinnen und -sportlern ein Problem: Sie wollen eigentlich clean und sauber und ehrlich und vorbildlich sein, aber es gelingt ihnen nicht immer, weil sie zugleich auch die Besten oder zumindest sehr, sehr gut sein möchten. Ich kenne im nichttänzerischen Bereich keine Leistungssportlerinnen und -sportler, die nicht dopen oder so nah wie nur möglich am Doping entlang schrammen. Zuletzt die Hingabe zur Sache: Leistungssportlerinnen und -sportler erleben eine ganz andere Welt als Menschen, die sich von Tag zu Tag durchs Leben treiben lassen können, ohne die strengen Stundenpläne.
Um den Kreislauf des Lebens aufrecht zu erhalten, muss Fortpflanzung stattfinden. Was muss geschehen, damit wir uns verlieben? Warum macht Liebe bisweilen blind und nach welchen Kriterien wählen wir Sexualpartnerinnen und -partner aus?
Mal abgesehen von zuverlässiger Versorgung der Nachkommen – die Partnerinnen und -partner dürfen daher nicht zu schluffig, aber auch nicht zu wild sein – möglichst unterschiedliche Immun-Systeme. Das ist die angebliche Liebe auf den ersten „Blick“; in Wahrheit Liebe auf den ersten Geruch. Wer es einmal nachrecherchieren möchte - Stichwort: „Genetisches Matching“.
Kämpfe und Schmerzen können innerhalb wie außerhalb unseres Körpers ausgetragen werden und wichtige Ventile für uns darstellen. Was führt biologisch dazu, dass wir aggressiv werden und wann empfinden wir Schmerzen als positiv?
Kann ganz verschiedene Gründe haben, ich gehe zuerst mal nur auf die Schmerzen ein: Das reicht von angelernten, schönen Erlebnissen, etwa sportlichen Erfolgen oder Applaus nach anstrengenden, schmerzhaften Abläufen, also einer gelernten Verstärkung „nach Mühe folgt großer Lohn“ bis hin zum Willen, sich oder anderen etwas zu beweisen und es durch Schmerz zu „beweisen“.
Es gibt dazu nicht nur von Sportlerinnen und Sportlern bzw. Künstlerinnen wie Künstlern, sondern auch im sexuellen und partnerschaftlichen Bereich eindrucksvolle Berichte. Was genau Dich „kickt“ oder dazu bringt, Schmerzen in Kauf zu nehmen, hängt auch von Deiner Persönlichkeit ab – manchen ist Lob und Beifall egaler als anderen, manche genügen sich selbst, einige führen Versuche mit Reizen durch. Jede und jeder Jeck is‘ anders, wie es in Köln ganz richtig heißt.
Kämpfen dient dazu, etwas zu erhalten oder zu verteidigen, was nicht verhandelbar ist. Da Lebewesen nie sicher sein können, dass Verhandlungen etwas bringen — die Kalorien zum Essen oder zum Heizen oder Kochen können ja auch durch Zufälle verschwinden: Vulkanausbrüche, Fluten, politischer Irrsinn —, kämpfen Lebende eben notfalls. In der „gesetzlosen“ Natur wird dauernd gekämpft, um Nistplätze, Männchen und Weibchen, Futter, einen Platz an der Sonne, einfach alles.
Unsere Vorstellung einer gleichsam dauerhaft friedlichen Welt kommt rasch an ihre Grenzen, wenn irgendwas verknappt vorliegt. Am ehesten können depressive Menschen einsehen, wenn das Spiel aus ist und sich kampflos ergeben, fantastisch dargestellt im Film Melancholia von Lars von Trier: Die einzige vernünftige Person im Angesicht des Unterganges ist die Depressive. Und so ist es auch. Alle anderen wollen kämpfen, auch wenn es schon längst keinen erkennbaren Nutzen mehr hat.
Es gibt natürlich auch das soziale, freiwillige oder geplante, sportliche Aufgeben, Verlieren oder Unterliegen, etwa beim Boxen, aber: Es stehen ja noch Güter in Aussicht. Beim nächsten Kampf könnte ich ja gewinnen. Ist alles recht lustig anzuschauen: The whole darned human comedy, wie es im Film The Big Lebowski ganz richtig heißt. Es geht wirklich nur um Kalorien, um sonst nichts.
Was passiert in unserem Körper, damit wir bei eingängigen Melodien mitsummen/-singen oder bei gleichmäßigen Rhythmen fast schon automatisch schunkeln, mitwippen und tanzen?
Weiß kein Mensch. Es wurde mit Messungen bei bestimmten Handlungen wie Juckreiz, Nachdenken, Beten und vielem mehr schon untersucht, welche Gehirnbereiche dabei angesprochen werden. Aber ich kenne keine Studie, die das Überspringen von Gefühlen von einer Person zur anderen jenseits der bekannten Spiegelneurone beschreibt.
Ich wäre dabei, wenn die Studie startet, und ich ahne schon, dass Ihr auch mitmachen würdet, so neugierig und angenehm, wie ihr hier gefragt habt.