Quelle: Stuttgarter Zeitung / Stuttgarter Nachrichten (Nov. 2019), https://stzn.atavist.com/criminal-minds#chapter-5298570
Von Markus Brauer
Der Kölner Kriminalbiologe Mark Benecke gehört zu den Stars seiner Zunft. Als Spezialist für forensische Entomologie untersucht er Insekten und ihre Brut, um Rechtsfälle und vor allem Tötungsdelikte zu bearbeiten. Im Interview sagt er, wie er arbeitet und was ihn an der Kriminalbiologie fasziniert.
Herr Benecke, bei Sachen, die die allermeisten abstoßend finden wie verwesendes Fleisch, Maden und Insekten bleiben Sie gelassen. Ekeln Sie sich vor irgendetwas?
Das sind für mich Spurenträger. Ich bin immer neugierig, was da vor sich geht. Bei einem Chirurgen könnte man auch sagen, dass er ein Herz operiert: Oh, wie schrecklich. Aber das ist nun mal sein Beruf und hoffentlich auch seine Superkraft, die anderen hilft.
Und ja, ich ekele mich sehr vor Haaren im Abfluss und Leberwurst.
Sie wurden am 26. August 1970 im bayerischen Rosenheim geboren und sind heute der bekannteste forensische Entomologe – also spurenkundlich arbeitende Insektenkundler – Deutschlands. Sind Sie Fan von TV-Crime-Serien wie “Criminal Minds”? Sie erinnern stark an den Entomologen Dr. Jack Hodgins aus „Bones – Die Knochenjägerin“.
Das kann ich nicht beurteilen, da ich kein Fernsehen schaue und noch nie einen Fernseher hatte. Ich habe auch noch nie einen „Tatort“ gesehen.
Was beinhaltet Ihr Fachgebiet?
Ich recherchiere, was geschehen ist — anhand der Lebensgewohnheiten und Lebensnischen von Insekten, die beispielsweise an einem Waldrand, in einem Mango-Feld oder in Wohnung leben.
Zweitens schaue ich auf ihr Alter. So können mein Team und ich beispielsweise untersuchen, wie lange eine Leiche von Insekten besiedelt wurde oder wo sie lag.
Das Dritte: Man kann Substanzen, die die Maden aufgenommen haben, wie zum Beispiel Spermienköpfe oder Gifte, in den Tieren finden, auch wenn die Leichen schon stark zerfallen sind.
Das Corpus delicti sind nur Insekten im Larvenstadium?
Man kann auch mit ausgewachsenen Tieren arbeiten.
Und das mit denjenigen, die auf frischen Leichen nisten?
Ja, das ist machbar. Ich führe aber auch genetische Fingerabdrücke, Blutspur-Analysen sowie Nach-Analysen von Gutachten durch.
Ihr Aufgabengebiet umfasst also das gesamte forensische Portfolio?
Außer medizinischen Fragen und polizeilicher Kriminalistik. Ich bin öffentlich vereidigter und bestellter forensischer Gutachter. Jeder kann mich buchen, auch die Polizei, die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht.
Über den Fall des Serienmörders Jürgen Bartsch aus den 1960er Jahren haben Sie einmal gesagt: „Der Fall hat die Strafjustiz verändert.“ Beschäftigen Sie sich öfters mit Serienmördern?
Ja. Ich habe beispielsweise einen Klienten, der viele Kinder getötet hat. Es bringt sehr viel mit den Tätern zu reden, weil sie die Einzigen sind, die wirklich wissen, was passiert ist. Vorausgesetzt, sie wollen reden. Das Gesagte kann man mit den Spuren abgleichen, so dass man eine schöne Brücke zur Wahrheit hat.
Wie recherchieren Sie ein Verbrechen?
Bei der Spurensuche sehe ich meistens nur ein Schlaglicht – etwa nur den Mageninhalt, das Blut, das Sperma oder die Insekten. Es ist ein Mosaiksteinchen, das ich dann weiterreiche.
Wie läuft eine forensische Untersuchung bei Ihnen ab?
Ich gehe heute seltener als früher zum Tatort. Früher habe ich das fast täglich gemacht. Aber es ist anstrengend, dauernd rauszugehen, sich umzuziehen und nicht zu wissen, ob die Spuren „abgefragt“ werden. Allein die Ordnung im Tatortkoffer zu erhalten, ist ein großer Aufwand, weil man keine Spurenübertragung haben darf. Das ist eine Irrsinnsarbeit. Heute mache ich vor allem Gutachten und Analysen. Gerade arbeite ich an Jahrzehnte alten Spuren, die ich mir noch mal angucke.
Für „cold cases“ — also lang zurückliegende Mordfälle.
Das sind keine echten „cold cases“, sondern Fälle, die sehr lange dauern. Es ist keine reine Laborarbeit. Ich bin dafür viel unterwegs.
Wie lange können Sie Spuren auf Insekten nachverfolgen?
Im Prinzip kann man auch 200 Jahre nach einer Tat noch Spuren finden. Wenn Maden Schwermetalle als Gift (etwa Thalliumsulfat) aufgenommen haben, die in der Leiche waren, kann es sein, dass man in den toten Tieren dieses Gift noch nachweist. Wenn beispielsweise mit einer Leiche auch eine Markusmücke in einem Plastiksack verpackt und vergraben wurde, kann man nach zehn, 20 Jahren immer noch die tierischen Reste und die Jahreszeit des Vergrabens untersuchen. Viele Tiere leben nur in bestimmten Monaten oder bestimmten Lebensräumen.
Woher rührt Ihr Interesse an Maden?
Ich habe es immer schon gemocht, Spuren und kleine Dinge zu untersuchen. Meinen Job als Forensiker mache ich schon seit 25 Jahren. Über ein Genetik-Praktikum während meines Biologiestudiums an der Universität Köln kam ich zum Rechtsmedizinischen Institut, wo ich später promovierte. Von 1997 bis 1999 war ich in New York beim Office of Chief Medical Examiner angestellt. An der FBI-Academy in Quantico in Virginia war ich als Schüler und auf der Body Farm in Tennessee auch als Schüler und später als Trainer für das FBI.
Was war Ihr erster großer Fall?
Für mich sind alle Fälle gleich groß. In der Presse “groß” war beispielsweise der Fall von Pastor Geyer. 1998 hatte ich nach der Untersuchung von Maden die Leichen-Liegezeit der getöteten Frau des Pastors festgestellt. Geyer hatte für den Tatzeitpunkt kein Alibi und wurde schließlich wegen Totschlags verurteilt. In Kolumbien untersuchte ich den Fall des kolumbianischen Serienmörders und Vergewaltigers Luis Alfredo Garavito Cubillos.
2012 untersuchten Sie die berühmten Mumien im süditalienischen Palermo. Kann man solche knöchernen Relikte forensisch überhaupt untersuchen?
Das klappt sehr gut. Mein Team und ich schauten uns unter anderem die Reste der Tiere an, die an den Leichen waren. Es war so eine Art forensische Historienarbeit mit einem Archäologen, sozusagen Bio-Archäologie.
Mit Mumien assoziiert man staubtrockene Relikte. Was lebt denn noch auf ihnen?
Wir finden dort tote Insekten, die in den Augen- und Mundhöhlen, auf Kleidungsresten und in den Särgen gelebt haben -hauptsächlich Motten, Fliegen und Käfer, etwa rotbeinige Schinkenkäfer, Buckelfliegen und Pseudoskorpione. Mumien können aber auch von lebenden Speckkäfern noch sehr spät zerfressen werden.
Was hat es mit Wladimir Iljitsch Lenins einbalsamierter Leiche auf sich, die Sie in Moskau untersuchten?
Ich hatte dort 2002 den Präparator Ilya Zbarsky (1913-2007) getroffen, der von 1956 bis 1989 Direktor des Wladimir-Lenin-Mausoleums und später Berater der Institutsleitung war. Alle, mit denen ich geredet hatte, hatten zu mir gesagt, die Leiche sei eine Wachspuppe. Das Erste, was ich dort gerochen habe, war aber Formalin. Für eine Wachspuppe braucht man kein Formalin. Danach habe ich spurenkundlich weitergearbeitet. Es ist tatsächlich Lenin, die echte Leiche.
Der russische Revolutionsführer war wahrscheinlich eine der ältesten Toten in Ihrer Liste.
Am ältesten war der heilige Severin, der ist vor 1600 Jahren verstorben. Ich untersuche oft ältere Leichen. Es gibt auch schon mal eine frische Leiche, aber das ist extrem selten. Ich komme erst dazu, wenn es kniffelig, schwierig und verfault wird und die Polizei mit den normalen kriminaltechnischen Methoden nicht weiterkommt. Das Alter der Leiche spielt keine Rolle. Im Sommer kann ein Mensch schon innerhalb weniger Tage schnell verwesen und ist dann „alt“.
Ist der Zustand der Leiche wichtig?
Ich benötige für die Untersuchung nur Spuren wie Blut, Sperma, Fasern oder DNA. Wenn es die gibt, ist alles gut.
Wie groß müssen die Spuren sein?
Eine einzige Hautzelle oder winzige Blutspur reichen schon aus.
Sind kannibalistische Serienmörder auch ein Thema für Sie?
Ja, ich habe hin und wieder solche Fälle. Mein Team und ich führe auch Tat-Nachstellungen und Nachforschungen in Subkulturen dazu durch.
— Mit vielem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung. —
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