Quelle: Magische Welt (mw), Oktober 2003, 52. Jg., Heft 5, S. 254
Zweiundzwanzig Mal Brachetti
Von Mark Benecke
Mit gut ausgetüfteltem Tempo und einem neuartigen Bühnenaufbau — einer riesengroßen, drehbaren Kiste — machte sich ARTURO BRACHETTI als „Meister einer seltenen Kunst" (Plakattext) erstmals dem breiten Publikum bekannt. Das war ganz schön gewagt. Denn seine seltene Kunst wurde monatelang niemandem erklärt — der Meister war seit Monaten bloß mit einer weißen Maske hundertfach in DIN-A3-Größe, ab Juli auch in Glitterregen getaucht, auf voller Litfaßsäulenhöhe zu sehen.
Dass durch die dichte Werbung neugierige Internetsurfer und Journalisten vorab auf Trab kämen (und das auch noch für zweiundzwanzig Vorstellungen im Hochsommer), war ein Irrtum. Die ersten Aufführungen in der Kölner Philharmonie wurden vor nicht (oder höchstens die Hälfte) zahlenden Zuschauern durchgeführt — „damit sich der Künstler an die Bühne gewöhnen kann", wie die stupide Begründung an der Kasse lautete.
Obwohl BRACHETTI bekanntere Illusionen (Punktetuch, schwebende Bälle und Körper, Blumen-Füllhorn) mit seiner Spezialität, dem Sich-Verwandeln, ausgezeichnet kombiniert, berichtete selbst die größte Abonnenten-Zeitung Kölns erst geschlagene sechs Tage nach Vorstellungsbeginn leicht überfordert, dafür aber mit großen Farbbildern vom Ereignis. Auch meine magisch immune Gattin fand die von BRACHETTI nur mit Händen und Lampe erzeugte Schattenspielnummer interessant, der Rest rauschte an ihr vorbei.
Der Grund für diese Unsicherheit ist, dass das deutsche Flächenpublikum nicht mehr an abendfüllende magische Abende gewöhnt ist. BRACHETTI hatte es da in Paris (acht Monate lang ausverkaufte Vorstellungen) oder auf Comedy-Festivals einfacher. Dort geht seine Aufführung im Zweifel als Zirkus, Varieté oder eben Comedy durch. In Nordamerika und beim älteren Publikum kann er zudem mit einer Hollywood-Nummer punkten, deren Motive (King Kong, Liza Minelli, Frankenstein, Casablanca) mittlerweile aber nostalgisch wirken. Eine Westernpartie, in der sich BRACHETTI unter anderem als Kneipier, Cowboy und Salon-Biene selbst bekämpft und beschummelt, funktioniert hingegen auch für deutsche Zuschauer/innen problemlos: Dafür ist kein Film- oder Vorwissen notwendig; man kann stattdessen ungeniert über die Verkleidungskunst staunen.
Wie auch TOPAS im aktuellen Programm bietet BRACHETTI Beamer-Projektionen, biographische Geschichten und eine absolut knorke Musik. Während Topas' Kölner Publikum aber im weit von der Innenstadt entfernten Limelight aus interessierten Damen und Herren an Varieté-Tischchen bestand (siehe mw 3/2003, Seite 128, die Redaktion), mußte BRACHETTI ein krachbuntes Innenstadtvolk unterhalten, das (ab dem fünften Abend) bis zu sechzig Euro Eintritt bezahlt hatte — und das, ohne zu wissen, worum es genau gehen würde.
Darum hat sein Team die Dramaturgie möglichst mitreißend angelegt — mit reichlich Emotionen und möglichst vielen Geschichten obendrein. Doch im Kontrast zum bombastischen Bühnenbild und den superben Tricks funktioniert das Drehbuch nicht immer. Die ohnehin hanebüchene Erzählung zu BRACHETTIS berühmter Hüte-Nummer wirkte beispielsweise gewollt und überflüssig. Auch ein langes Stück, das sich um Regisseur FELLINI und seine Filme rankt, bebt zwar vor überschwenglicher Emotion („Danke, FREDERICO!"). Doch deutsche Zuschauer/innen haben meist weder tiefe Gefühle für FELLINI, noch kennen sie seine Filme gut genug, um etwa das atemberaubende Bildzitat eines nächtlichen Kreuzfahrt-Schiffes würdigen zu können, das fantastischerweise über die Bühne gleitet.
Trotz der kulturbedingten Ecken und Kanten erstritt sich BRACHETTI stehenden Schluß-Applaus. Das passiert in der Philharmonie zwar öfters (Köln ist dafür bekannt, „die nördlichste Stadt Italiens" zu sein, soll heißen, die Menschen lassen sich hier begeistern wie nirgendwo sonst in Deutschland), doch waren die standing ovations hochverdient. Nicht nur die Idee, einen kompletten Abend aus einem Bretterquader zu entwickeln, war meisterlich umgesetzt. Auch BRACHETTIS Kleidungswechsel waren oft derart rasant, dass die Zuschauer/innen gar nicht zum Sekundenzählen kamen.
Am meisten beeindruckt haben mich BRACHETTIS routiniert ausgeführte, aber dennoch frisch wirkende Standardillusionen. Wer im Pariser Lido die ebenfalls perfekten, aber in ihrem erfrorenen Lachen aalglatt erscheinenden Fließband-lllusionisten gesehen hat, fühlt den Unterschied zu BRACHETTIS Leistung besonders stark. In Köln legte sich der Meister derart begeistert und begeisternd ins Zeug, dass ihm das Publikum sogar die geizigerweise eingesparte Zugabe nicht verübelte.
Ein ausführliches Interview mit BRACHETTI erfolgt in einer der nächsten mw-Ausgaben. (Es erfolgte dann aus unerklärlichen Gründen nicht in der mw, sondern in der Zauberkunst.)
Kurz-Vita Mark Benecke
Mark Benecke äugt als Kriminal-Biologe auf alles Randständige. Er war lange Mitglied im Wissenschaftsrat der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und ist Mitglied vieler rechtsmedizinisch-kriminalistischer Vereinigungen. Seine Freunde halten ihn für den schlechtesten Illusionisten der Welt, fragen sich aber zu Recht, welche Kraft die soeben gekauften Halstücher urplötzlich verknotet hat.