Quelle: Zimmer Eins — Das Patientenmagazin, Ausgabe 2/2020, Seite 9
Warum es keine Selbstlosigkeit gibt und wieso Menschen in Krisen zusammenhalten, erklärt Dr. Mark Benecke
In den letzten Monaten haben die meisten von uns festgestellt, dass die Welt nicht zusammenbricht, wenn sie sich etwas langsamer dreht. Viele meiner Bekannten hatten Zeit für ihre Familien, sind im Wald oder im Park spazieren gegangen und haben beobachtet, wie es erst Frühling und dann Sommer wurde. Auf meiner Facebook-Seite habe ich Insektenfotos von Fans gesammelt, anschließend haben wir gemeinsam die jeweilige Art bestimmt. Viele kannte ich selbst noch nicht. Ein tolles Beispiel für den neuen Zusammenhalt sind die Börsen mit Atemmasken und andere Tauschplattformen im Internet. Hier steht nicht Geld im Vordergrund, sondern gegenseitige Hilfe.
Dennoch muss ich als Biologe sagen: Die von manchen erwünschte Traumwelt, in der wir immer selbstlos füreinander einstehen, kann es nicht geben. Denn wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten, ist in entscheidenden Augenblicken davon abhängig, wie eng wir mit ihnen verwandt sind. Das ist bei uns nicht anders als bei anderen Tierarten.
„Letztlich sind wir immer von Umweltbedingungen abhängig. Sie haben oft mehr Einfluss auf unser Verhalten als Wahlen und wirtschaftliche Voraussetzungen.“
Eine weitere Wunschvorstellung ist es, dass wir Menschen stets eigenständig entscheiden, wie wir leben möchten. Natürlich haben wir einen Handlungsspielraum. Doch letztlich sind wir immer von den Umweltbedingungen abhängig. Sie haben oft mehr Einfluss auf unser Verhalten als Wahlen und wirtschaftliche Voraussetzungen.
Mehr Solidarität ist derzeit, biologisch gesehen, ganz normal: Wie Tiere bevorzugen wir Einzelinteressen, wenn es möglich ist – und schließen uns zu Gruppen zusammen, sobald es nötig ist. Wenn uns ein Virus bedroht, ist Zusammenhalt sinnvoller. Sogar die sonst verbohrten Impfgegnerinnen und Impfgegner sind derzeit an Zahlen und Tatsachen etwas interessierter als noch vor wenigen Monaten.
Ein Blick in die Geschichte zeigt: Auslöser für gesellschaftliche Erneuerung sind selten wirtschaftliche Schwankungen, sondern oft große Unglücke, die außerhalb unserer Macht stehen. Gesundheitliche zum Beispiel. Nicht umsonst erlebte Europa nach der Pest eine Blüte der Wissenschaften und Künste.
ZUR PERSON
Dr. Mark Benecke
Seit mehr als 25 Jahren ist der „Herr der Maden“ als wissenschaft licher Forensiker zum Beispiel im Bereich der Insektenkunde aktiv. Er ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren und untersuchte unter anderem Adolf Hitlers Schädel. Er veröffentlicht Artikel, Sach- und Kinderbücher und entwickelt Experimentierkästen. In seinen Vorträgen geht er gemeinsam mit dem Publikum auf Spurensuche.