Vom Schneck zum Schreck

Quelle: Die Zeit, Ausgabe 10/1995, Seite 28

Eine Entdeckung: Der Gruselautor Edgar Allen Poe schrieb zuerst ein wissenschaftliches Schneckenbuch

Von Mark Benecke

Auf einer Buchauktion in Braunschweig tauchte im letzten Herbst inmitten kostbarer Schriften aus vergangenen Zeiten ein Büchlein auf, dessen Wert auf stolze 2800 Mark geschätzt wurde. Zum Vergleich: Der "Atlas zu Humboldts Kosmos" war für die Hälfte und Darwins "Gesammelte Werke" von 1881 gar für ein Siebtel dieses Betrages zu haben. Der enorme Preis rührt von der unter Antiquaren bekannten Regel her, daß sich ein Buch um so teurer verkaufen läßt, je außergewöhnlicher es ist. Das Besondere an dem Auktionsstück ist neben seiner Seltenheit nichts anderes als der Name seines Autors. Edgar Allan Poe, der zu Beginn des letzten Jahrhunderts lebte, verfaßte 1839 dies malakologische Buch mit dem Titel "The Conchyologist's first book or, a system of testateceous malacology". Die damals üblichen Erweiterungen des Textkopfes münden im Versprechen, "so genau als irgend möglich dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft gerecht zu werden und zudem mit einer großen Anzahl neuer Arten" aufzuwarten. Diese selbstgestellten Anforderungen scheint das Buch erfüllt zu haben: Bereits im folgenden Jahr wurde eine weitere, nicht merklich veränderte Auflage gedruckt.

Poe war bemüht, ein so anschauliches wie präzises Werk zu verfassen. So erklärt sich auch der umständliche Titel "Malakologie der Testazeen": Der sinngleiche Begriff "Conchyologie" war Poe zu sehr einer altertümlichen Vorstellung von Schalentieren verhaftet, die beschalte Weichtiere (Mollusken) mit Krebsen zusammenlegt. Daß das Buch trotz aller Sorgfalt mehrere zoosystematische Fehleinordnungen enthält, darf ihm als zeitgebundener Mangel nachgesehen werden.

Obwohl das Werk ein Schul- und Lehrbuch ist, schlägt Poes Dichterseele durch. In der Einleitung etwa weist der Autor darauf hin, daß sich dem Schneckenkundigen "auf diesem selten begangenen Pfad Einsichten über den göttlichen Plan und das allmächtige Wohlwollen" ergeben würden. Poe dramatisiert hier und führt zugleich einen Seitenhieb gegen jene, die Schneckenkunde bloß als Sammelleidenschaft verstehen. Sein Buch gibt einen Überblick über wasserlebende Schnecken und einige andere gehäusetragende Tiere wie Muscheln oder Tintenfische. Unter den auf zwölf Tafeln abgebildeten, gut zweihundert Gehäusen findet sich für jede Gattung mindestens ein charakteristisches Exemplar. Zusätzlich zu der früher in Lehrbüchern üblichen sturen Auflistung von Arten liefert Poe zu jeder Gattung einige äußere Bestimmungsmerkmale und gelegentlich systematische Hinweise.

Wie kam Poe, der zu dieser Zeit bereits einige Gedichtbände verfaßt hatte, zur Schneckenkunde? Der junge Edgar Allan wurde 1831 wegen Aufsässigkeit aus der Militärakademie entlassen. Da er mit seinem Pflegevater gebrochen hatte und sich zudem der Flasche zugewandt hatte, lebte Poe lange in ärmlichen Verhältnissen. Er versuchte nun als einer der ersten Amerikaner, seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller zu verdienen. Frühe Projekte, darunter eine Zeitschrift, waren jedoch nicht besonders erfolgreich. Um sein Auskommen (und das seiner kränkelnden Cousine, die er geheiratet hatte) zu sichern, nahm Poe Auftragsarbeiten an, darunter das "Schneckenbuch".

Bereits im Jahr der zweiten Auflage dieses Buches gelang ihm der erhoffte Durchbruch mit den "Tales of Grotesque and Arabesque", gefolgt von "Der Doppelmord in der Rue Morgue" und schließlich, im Jahr 1845, mit "Der Rabe". Dies erklärt, warum Poe zeitlebens nicht mehr mit der Schneckenkunde in Berührung kam: Er widmete sich in den folgenden Jahren seinen Kurzgeschichten und Novellen, die Baudelaire schließlich nach Europa brachte. Ein einziges Mal noch, ein Jahr vor seinem Tod, streifte Poe die Naturwissenschaften. "Eureka", ein "phantastisch-naturphilosophisches Lehrgedicht in Prosa", wie es der Brockhaus von 1933 nennt, ist "mit großer Hochachtung Alexander von Humboldt" zugedacht.

Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.


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