Mark Benecke in Suhl. Wir lösen uns auf – doch einer kommt drauf

Quelle: Freie Presse, 10. Jan. 2023, S. 12

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Von Peter Lauterbach 

„Lass uns verschwinden“, sang mal Judith Holofernes von den Helden: „Wir lösen uns auf, da kommt keiner drauf.“ Haha, die Dame kennt offenbar Mark Benecke nicht. Für den sind in Auflösung begriffene Menschen wie eine kriminalbiologische Zeitreise. Der Popstar unter den Forensikern kommt drauf, ganz bestimmt.

Erste Erkenntnis des Abends: Alleine zu verschwinden, ist eine ziemlich blöde Idee. Zumindest sollte, wenn es sich schon nicht vermeiden lässt, jemand zeitnah nach dem Rechten schauen. Dafür kann man ja sorgen. Die sogenannte Wohnungsleiche, erzählen die illustrierten Ausführungen von Mark Benecke dem so interessiert wie massenhaft erschienenen Publikum im CCS, sei mit Abstand die häufigste Gelegenheit für die Polizei, einen Forensiker wie ihn zum Fundort zu bitten. Erst weit, weit dahinter folgen der gewöhnliche Suizid (laut Benecke sind hierzulande rund 10 000 Fälle per anno zu beklagen), und schließlich rund 220 Mordopfer – knapp 20 pro Monat. Hätten wir zwar nicht gedacht, weil zwischen Neujahr und Silvester im deutschen TV Hunderte Ermittler gefühlt Tausende Tötungsdelikte zu klären haben. Aber es verschwindet sich im richtigen Leben halt meist ganz ohne Fremdeinwirkung einfach so.

Tausend Jahre machen nichts

Zweite Erkenntnis des populärwissenschaftlichen Vortragsabends, bei dem es um „Bakterien, Gerüche und Leichen“ geht: Judith Holofernes hat Recht. „Ein kurzes Glimmen, dann ein Verschwimmen, dann ein Verschwinden und mit den Jahren oder auch Stunden oder Sekunden schließt sich die Welt da wo wir waren“, singt sie. Was für ein poetischer Text! Mark Benecke muss begeistert sein von diesem Lied, sollte er es kennen. 

Der biologische Kreislauf, das ewige Recycling der Atome und Moleküle, fasziniert diesen Mann, der sich mit der nicht zu bändigenden Neugier eines Wissenschaftlers auf alles Vergängliche stürzt. Wobei für einen Kriminalbiologen wie ihn das Verschwinden schon irgendwie zwischen Stunden und Jahren liegen sollte, um erfolgreich zur Tat schreiten zu können. Die Mikroorganismen – mehr als eine Milliarde ungefähr in einem Teelöffel voll Erde – sorgen schon dafür, dass am Ende alles so aussieht wie am Anfang. Aber das dauert eben alles seine Zeit. Und die, lernt das Publikum in Suhl, ist ganz entscheidend, wenn es darum geht, im Stadium des Übergangs das herauszufinden, womit wohl das Verschwinden begonnen haben könnte.

Ein paar tausend Jahre sind da nicht unbedingt schlimm. Zum Beispiel Ötzi: Eine Pfeilspitze im Schulterblatt, eine verletzte Arterie: Vermutlich verblutet infolge Fremdeinwirkung. Mord. Ein fremder Krieger. Das ist doch so, Herr Benecke? „Moment“, würde der jetzt sagen. „Muss ich mir die Messdaten anschauen.“ Könnte ja auch ein eifersüchtiger Liebhaber, eine gehässige Gattin, der mit dem Flitzebogen spielende Sohnemann gewesen sein. Selbst wird sich Ötzi ja schwerlich angeschossen haben. Aber das herauszufinden, sagt der Forensiker, sei ja auch gar nicht sein Bier. Er bewerte nicht. Er messe nur. Reine Wissenschaft. Seine Leichenschau ist eine Zeitreise, die am Ende aufgrund biologischer Analyse „gutachtenfest“ sein muss. Für’s Gericht. Das bewertet.

Erkenntnis Nummer drei: Mark Benecke ist kein Karl-Friedrich Boerne. Was den polizeikriminalistischen Spürsinn betrifft. Denn er ist erstens kein „Pathologe“ – gut, solche Profanität würde Boerne auch weit von sich weisen. Und zweitens kein Rechtsmediziner, was auf die allseits bekannte Figur aus dem Münster-Tatort nun eindeutig zutrifft. Mark Benecke sieht sich als Sachverständigen für biologische Spuren, als Forensiker oder Kriminalbiologen. Und schon gar nicht als „Profiler“, deren Expertisen ja in gefühlt jedem zweiten Krimi aus Skandinavien oder Amerika erforderlich sind. Und keineswegs würde er den Kriminalhauptkommissar mit dem PKW durch die Gegend kutschieren, ihm dabei kluge Ratschläge geben oder gar selbst ein bisschen mitermitteln, nur um am Ende sagen zu können: „Ohne mich, Thiel, wären Sie da nie drauf gekommen.“

Eine Koryphäe

Vierte Erkenntnis: Ein bisschen wie Karl-Friedrich Boerne ist er aber doch. Er macht – natürlich – keine Fehler. Vermutet der Zuhörer. Hat Mitarbeiterinnen, die zwar nicht Alberich oder Frau Haller heißen, sondern Saskia und Tina. Über deren Körpergröße erfährt das Suhler Publikum allerdings nichts. Dafür, dass beide es schon recht lange an seiner Seite aushalten. Während andere, meist wegen ungünstiger Arbeitszeiten, schnell den Job wechseln würden. 

Mark Benecke besitzt mindestens so viel Selbstbewusstsein wie Professor Boerne. Selbstverständlich ist er ein international angesehener Wissenschaftler, eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er baut Labore auf der ganzen Welt, verfügt über die modernste Technik, unterrichtet Studenten, schreibt Bücher, hält Vorträge – und gibt jedem seiner Zuhörer das Gefühl: Da komm ich drauf. Man sieht ihn sich förmlich – wie Boerne – im weißen Kittel über den Tisch beugen. Am Ende schaut er hoch und sagt: „Tja, wenn Sie mich nicht hätten.“

Farben von Rot bis Grün

Wir erkennen fünftens: So einfach ist es ja oft nicht, mitten im biologischen Auflösungsprozess, der von Wärme, Kälte, Feuchtigkeit und Trockenheit beeinflusst wird, auf das zu schließen, was ein jeder wissen will: Die Todesursache. Und zack – hat Mark Benecke das ein oder andere Bildchen parat, bei dem diverse Bakterien für rote oder grüne Hautfärbung sorgen oder die Vertrocknung für ein sattes Rotbraun. Wo der Speckkäfer sein munteres Zersetzungswerk treibt oder sich Maden (die Larven von Fliegen) in Wasserblasen unter der Haut wohl fühlen. Die Zuhörer erfahren, wann Haare aus dem Kopf fallen und wann nicht oder wann ein scheinbar scharfer Schnitt im Gesicht von einem Messer rühren könnte oder von einer „biologische Zersetzungskante“, weil der Kopf der Leiche eben auf einem Kissen lag – zur Hälfte in der Luft, zur Hälfte im Mikroklima. 

Wir lernen, sollten wir je eine Leiche im Wald finden: Möglichst nicht darüberbeugen, nichts daneben essen und auch nichts bewegen, ins Auto packen und zur Polizei fahren, oder so. Vor allem Pilzsucher und Lkw-Fahrer seien gefährdet, sagt Benecke. Sie fänden die meisten Leichen im Wald. Und ganz im Ernst: Das Mikroklima am Fundort verrät dem Forensiker die halbe Wahrheit.

Alles nicht sehr appetitlich, schon klar. Bisschen gruselig, bisschen eklig – solange der Kriminalbiologe in seinem Objekt den gewesenen Menschen sieht. Blickt er da hindurch, sieht er die biologischen Prozesse der Vergänglichkeit, die Mikroorganismen, die chemischen Verbindungen – sieht die Welt auf einmal ganz anders aus.

Sechstens: Die meisten Menschen sterben an Herzversagen. Nur wird nirgends so viel gelogen wie auf Totenscheinen. „Herzstillstand ist immer“, sagt Mark Benecke. Aber warum? Die tatsächliche Todesursache bleibe meist unerkannt, werde auch nicht untersucht. Außer, es gibt einen Verdacht: Pflegevernachlässigung, Sexualverbrechen, oder irgendetwas ist so komisch, dass der Polizist sagt: Ich weiß nicht. Das sollte sich mal jemand anschauen. Nicht immer sind das natürlich Kriminalbiologen. Mark Benecke kommt, wenn die Zeit fortgeschritten ist und jemand für eine Zeitreise gebraucht wird. Jemand, der den Weg zurückverfolgt, anhand des Zustands und der Umstände.

Schließlich die siebte Erkenntnis: Warum kommen zu Mark Beneckes gruseligen Geschichten Tausende Menschen – auch in Suhl? Ganz einfach, er ist der Popstar unter den Forensikern. Einer der wenigen seiner Zunft, der über die biologische Vergänglichkeit ganz offen im gefälligen Show-Format spricht. Und zwar als Typ, als schräger Vogel, als jemand, der das Talent hat, jedem sofort das Gefühl zu geben: Für den Fall, man wird irgendwann einmal gefunden, in einer Wohnung, und niemand war rechtzeitig zur Stelle: Ich löse mich auf – aber er kommt bestimmt drauf.


Anmerkungen von Mark: Ich habe noch nie einen "Tatort"-Krimi gesehen und fühle mich auch nicht selbstbewusst. Nur, dass es keine Missverständnisse gibt. Die Sachverständigenbezeichnung ist offiziell, nicht meine Eigen-Sicht. Ein sehr großes Dankeschön an die Freie Presse, Peter Lauterbach und Karl-Heinz Frank für die Erlaubnis zur Wiedergabe des Artikels. 


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