Der Führer hatte Mundgeruch

Quelle: FAZ.net

VON ANDREAS NEFZGER

Vor 70 Jahren erschoss sich Adolf Hitler. Oder nahm er doch Zyankali? Auf einer irren Reise wollte der Kriminalbiologe Mark Benecke diese Frage in Moskau klären. Er fand Knochen, die durch etliche Hände gegangen waren – und Beweise für Hitlers gesundheitliche Probleme.

Irgendwann auf dieser Reise, die an irren Momenten nicht arm war, hatte der Kameramann einen besonders verrückten Einfall. Das Filmteam war nach Moskau gekommen, um eine Dokumentation darüber zu drehen, wie der deutsche Kriminalbiologe Mark Benecke die angeblichen Überreste Adolf Hitlers untersucht. Benecke und das Team hatten schon eine skurrile Begegnung mit einer Archivarin hinter sich, die Hitlers angeblichen Schädelknochen jahrelang in einem Schrank verstauben ließ, als sie im Archiv des russischen Inlandsgeheimdienstes (FSB) ankamen, um noch Teile eines Kiefers in Augenschein zu nehmen. Und als sie da zwischen lauter altem Nazi-Plunder aus dem Führerbunker standen, fragte der Kameramann, ob er nicht mal diese Uniform dort anprobieren dürfe. Der Archivleiter hatte nichts dagegen. Also zog er die Uniform über, die, wie der Mann vom FSB anschließend versicherte, einst Joseph Goebbels getragen hatte.

Mehr als zehn Jahre später erzählt Mark Benecke in seinem Labor in Köln die Anekdote noch immer mit viel Lust an der Pointe. Die Geschichte mag nicht jedermanns Humor treffen, aber der Kriminalbiologe ist da wenig zimperlich. Wie man das auch von jemandem erwartet, der von Art und Größe der Maden auf einem Leichnam auf Ort und Zeitpunkt des Todes schließt und der auch sonst seine Eigenheiten pflegt. Der ganzkörpertätowierte Spezialist für forensische Entomologie ist unter anderem auch Vorsitzender des Vereins ProTattoo und Landesvorsitzender der Satirepartei „Die Partei“ in Nordrhein-Westfalen.

Die Anekdote über Goebbels’ Uniform dient aber nicht nur der Image-Pflege. Benecke will veranschaulichen, wie nachlässig die russischen Archive die Überbleibsel Hitlers und seiner Getreuen behandelten. Wenn schon ein Kameramann die Uniform des Propagandaministers anziehen darf, wird auch das, was angeblich von Adolf Hitler übrig ist, durch viele Hände gegangen sein, die es womöglich für eine wissenschaftliche Untersuchung verdorben haben. Dabei könnten die Überbleibsel helfen, nicht unbedeutende Fragen abschließend zu klären: Wie starb Hitler? Und: Haben die Alliierten seinen Leichnam tatsächlich gefunden?

Hat Hitler sich vergiftet?

Ernstzunehmende Menschen sind sich einig, dass sich Adolf Hitler am 30. April 1945 im Führerbunker das Leben nahm. Konsens herrscht auch darüber, dass sich Hitler erschossen hat. Der endgültige Beweis fehlt aber. Mark Benecke hoffte, ihn in Moskau zu finden. Seines Wissens ist er der einzige Wissenschaftler, der - eingefädelt vom Fernsehsender „National Geographic“ - sowohl den Schädel als auch die Zähne gründlich untersuchen durfte. Aber von Gewissheit ist in dieser Geschichte eigentlich kaum etwas.

Der Geschichtskrimi setzt in den letzten Tagen im Führerbunker vor der Reichskanzlei ein. Draußen war die Rote Armee bis auf wenige hundert Meter herangerückt, drinnen witterte der „Führer“ überall Verrat. In der Nacht auf den 29. April 1945 heiratete er Eva Braun, anschließend diktierte er seiner Sekretärin Traudl Junge sein Testament. Am 30. April um 15 Uhr verabschiedete er sich von seinen Anhängern und zog sich mit seiner Frau in den Wohnraum zurück.

„Was dann geschah, hat sich eindeutig nicht mehr aufklären lassen“, schrieb Joachim Fest in seiner Hitler-Biographie. Sicher ist: Als die Tür geöffnet wurde, waren Adolf und Eva Hitler tot. Doch die Aussagen widersprechen sich. Hat sich Hitler mit Zyankali vergiftet? Schoss er sich in den Kopf? Tat er beides? Befahl er gar einem Getreuen, ihn nach Eintritt des Gifttodes noch zu erschießen? Gewissheit kann nur der Leichnam geben.

Die Zähne des Diktators

Doch Hitler traf Vorbereitungen, auch tot nicht in die Hände des Feindes zu fallen. Zu SS-Adjutant Otto Günsche soll er gesagt haben: „Ich möchte nicht, dass meine Leiche von den Russen in einem Panoptikum ausgestellt wird.“ Also übergossen Günsche, Hitlers Kammerdiener Heinz Linge und Privatsekretär Martin Bormann den Leichnam mit Benzin und zündeten ihn wie befohlen an - aber er verbrannte nicht restlos. Nur wenige Tage später grub eine Einheit des sowjetischen Militärgeheimdienstes „Smersch“ vor dem Führerbunker zwei Körper aus. Die Zähne des einen identifizierten eine Zahnarzthelferin und ein Zahntechniker als die von Adolf Hitler.

Doch in Moskau entschied Josef Stalin höchstselbst, was von dem Kiefer zu halten sei, nämlich: nichts. Die Beweise wurden zur Makulatur erklärt, der Feind blieb zur Fahndung ausgeschrieben. Kurz darauf sagte Stalin auf der Potsdamer Konferenz beim Abendessen, Hitler habe sich möglicherweise nach Spanien oder Argentinien abgesetzt. Später sagte er einmal, der Diktator sei mit einem U-Boot nach Japan geflüchtet.

Schlimme Paradontose

Als Mark Benecke im Archiv des FSB eintraf, war es, als sei er in die Zeit zurückgereist, da der FSB noch KGB hieß und tatsächlich solche Geschichten in Umlauf brachte. Die schweren braunen Sessel, die holzvertäfelten Wände, die versiegelten Telefone - er fühlte sich wie in einem James-Bond-Film. Geradezu zeremoniell öffneten die Geheimdienstler die alten Koffer, in denen sich Aufzeichnungen von Hitlers Zahnarzt befanden, daneben Fotos aus dem Führerbunker und, an den Rändern verkohlt und verpackt in einer angestaubten Pappschachtel: Zähne.

Zur Identifizierung eines Leichnams ist das Gebiss perfekt, vor allem wenn es so ruinös ist wie das von Hitler: die Kieferknochen von einer schlimmen Parodontose zersetzt, unten nur noch die vier Schneidezähne zusammenhängend erhalten, eine außergewöhnliche Metallbrücke, vielleicht auf Hitlers Wunsch hin angefertigt, nicht so bald wieder zum Zahnarzt zu müssen. Benecke verglich die Asservate mit Aufzeichnungen zum Zahnstatus und mit einem Röntgenbild, das entstanden war, als Hitler nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 über Kopfschmerzen klagte.

Was Benecke sah, war für ihn nicht nur ein Beweis für den Mundgeruch des Diktators. Für ihn besteht auch kein Zweifel daran, dass die Zähne, die beim FSB liegen, Hitlers Zähne sind: „Wenn er also noch irgendwo rumläuft, dann ohne Ober- und Unterkiefer.“ Aber könnte das alles nicht auch eine Fälschung sein? „Das kriegt man nicht mehr gefälscht“, sagt Benecke, „das glauben nur Leute, die auch an Aliens glauben.“

Die Sowjets wussten also wohl von Anfang an, wessen Leiche sie da aus dem zugeschütteten Bombentrichter gezogen hatten. Aber warum vertuschten sie es? Wollte Stalin so weitere Feldzüge gegen den Faschismus anzetteln? Offiziell gingen die Ermittlungen in der Sowjetunion weiter, nun allerdings von der normalen Polizei geführt - und nicht eben frei. Die Ermittler zerrten für „Operation Mythos“ Linge und Günsche abermals aus ihren Kerkern und prügelten Aussagen aus ihnen heraus. Sie gruben noch einmal vor dem Führerbunker und fanden den Schädelknochen, den Mark Benecke später untersuchen sollte. Aber am Ende bekamen sie keinen Zugang zu Hitlers mutmaßlicher Leiche und deren Zähnen, und sie hielten es „nicht für möglich, in dieser Frage endgültige Schlüsse zu ziehen“.

Erst 18 Jahre nach Kriegsende und zehn Jahre nach Stalins Tod gab erstmals ein russischer Offizieller gegenüber dem Westen zu, dass auch die Sowjetunion Hitler als tot betrachtet. Die Verwirrung hielt jedoch an. Der russische Historiker Lew Besymenski legte schlüssig dar, dass Hitler sich mit einer Zyankali-Kapsel vergiftet hat. Die These fand auch in Deutschland Anklang. So schrieb Karl-Heinz Janßen 1968 in der „Zeit“, dass die in Deutschland mittlerweile offizielle Annahme, Hitler habe sich mit einem Schuss in die rechte Schläfe das Leben genommen, voreilig formuliert gewesen sei: „Er hat feige Gift genommen.“

„Wie ein Weib gestorben“

Aber auch das war voreilig formuliert - und ganz im Sinne der Sowjetunion. Denn Besymenskis Buch war eine Räuberpistole, die Zyankali-These eine Vorgabe von oben. Der Historiker gab das mehrfach zu, auch gegenüber Mark Benecke. Besymenski gestand: „Die haben zu mir gesagt, es muss Zyankali sein, damit Hitler wie ein Weib gestorben ist.“

Das Corpus Delicti befand sich derweil auf einer Odyssee durch Deutschland. Die Leichen von Adolf und Eva Hitler blieben im Besitz des Geheimdienstes und zogen mit um, wenn der versetzt wurde, von Finow nach Rathenow, später nach Stendal, schließlich nach Magdeburg. Am 4. April 1970 exhumierten die Sowjets die Leichen ein letztes Mal, verbrannten die Überreste auf einem Scheiterhaufen und streuten die Asche in einen Fluss. Schädel und Zähne kamen auf verschlungenen Wegen in die Archive.

Ein Loch im Schädel

Aber was sollte man damit anfangen? Die Frau, die Mark Benecke im Moskauer Staatsarchiv Hitlers angebliches Schädelfragment zeigte, war dabei, als der KGB ein Päckchen mit der Aufschrift „Operation Mythos“ brachte. Demnach verstauten die Mitarbeiter die heikle Lieferung erst einmal in der hintersten Ecke, erst Jahre später sei es dann „beim Aufräumen“ wiederaufgetaucht. Benecke meint: „Die haben sich gesagt, okay, ich mache gar nichts, dann kann ich auch nichts falsch machen, und mir passiert nichts.“

Als Benecke das Stück Schädel entgegennahm, lag es in einer Box für Computer-Disketten auf mehreren Lagen Abschminktücher. Seine Untersuchung führte ihn zu dem Schluss: Das Loch darin ist ein Austrittsloch, der Winkel passt zu einem Schuss in den Mund, der Durchmesser könnte dem verwendeten Kaliber entsprechen. Wenn der Schädelknochen also zu Hitler gehört, ist eigentlich alles klar - wenn. Doch schon an der Frage, ob der Schädel zu einem Menschen gehört, der wie Hitler zum Zeitpunkt seines Todes 56 Jahre alt war, scheiden sich die Geister.

Gemeinsam mit einer Anthropologin und einem Gerichtsmediziner sah sich Benecke die Verwachsungen der Schädelnähte an, die Rückschlüsse auf das Lebensalter zulassen. Sie waren sich einig, dass der Schädel auf den ersten Blick zu einem älteren Menschen gehört, aber Benecke führt an, „dass Hitler körperlich am Arsch war“. Seine angebliche Parkinson-Erkrankung und der Amphetamin-Missbrauch haben ihn vielleicht frühzeitig oder körperlich anders altern lassen, glaubt Benecke. Sein Fazit: „Das Schädelstück ist als Spur nicht toll, aber gut genug, um damit weiterzuarbeiten.“

Gewissheit könnte nur eine DNA-Analyse bringen. Aber als es darum ging, hörte die Kooperationsbereitschaft der Russen plötzlich auf. Auch später stellte Benecke immer wieder Anfragen, aber alle Versuche verliefen im Sand. Selbst als er mit Rubelscheinen winkte - bei der ersten Reise hatte es noch geholfen -, kam er nicht weiter. „Es war offensichtlich, dass die Leute Angst hatten.“

Was Benecke noch verwehrt blieb, gelang im Jahr 2009 dann Nick Bellantoni. Der amerikanische Anthropologe durfte das Schädelfragment eine Stunde lang untersuchen und anschließend mit einer Probe im Gepäck nach Hause fliegen. Das Ergebnis seiner Analyse: Hitlers angeblicher Schädel ist der Schädel einer Frau.

Das Echo auf die absurde Wendung, die diese Geschichte nahm, war natürlich groß, aber Mark Benecke sieht darin noch lange keinen Grund, seine Hypothese in Frage zu stellen. Er hält es für wahrscheinlich, dass der amerikanische Kollege die DNA der russischen Archivarin untersucht hat. Wo Kameramänner Goebbels’ Uniform anziehen dürfen und Archivarinnen Hitlers möglichen Schädel ohne Handschuhe anfassen, sollten Forscher besondere Vorsicht walten lassen.

Und nun? Will Benecke selbst noch einmal ran? Er würde wohl nicht nein sagen. Aber eigentlich fände er es lustig, wenn die Überbleibsel irgendwann einfach verschwinden und auf dem Schwarzmarkt landen, so, wie es wohl auch mit dem goldenen Parteiabzeichen Hitlers passiert ist, das sich ebenfalls in der Obhut des FSB befand: „Das ist doch besser als eine Ausstellung oder sonst was, wenn das Ganze irgendwie versandet und sich in einer märchenhaften Geschichte auflöst.“


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