Quelle: — Gespräch ursprünglich für eine deutsche Medizin-Zeitschrift geführt —
Herr Dr. Benecke, zehn Jahre Arbeit stecken in Ihrem Buch über Blutegel. Was fasziniert Sie so an diesen Tieren?
Sie sind so cool eingenischt. Ich habe ein Herz für Spezialist:innen (und wie hier: Zwitter), die in einer eigentlich unmöglichen Welt und ohne Schutz so erfolgreich leben. Das Buch ist übrigens mit Stephan und Monika Schorn verfasst.
Sie schreiben: „Blutegel sägen mit den feinen Zähnchen ihrer Kieferplatten ein Loch von der Gestalt eines gleichseitigen Dreiecks in die Haut. Dabei wird ein Hautstück vollständig entfernt, sodass die vom Egel verursachten Wunden stark bluten und nicht so leicht verheilen.“ Das hört sich schmerzhaft an. Ist es das auch? Können Sie die Erfahrung beschreiben?
Es zwickt, aber niemand wird ja heutzutage aus Zufall gebissen, von daher... Blöd ist, wenn sie rumtasten und dann auf einmal in der Ellenbogenbeuge saugen. Ist einer Kollegin in der Zoologie passiert, sie dann tagelang mit Druckverband rumlaufen musste. Da es meine Egel waren, fühlte ich mich natürlich verantwortlich. Dass die Wunden schlecht verheilen, stimmt so nicht, es passt schon.
In Ihrem Buch nennen Sie Blutegel „die reinsten Mini-Apotheken“. Bei welchen Beschwerden ist eine Blutegeltherapie vor allem sinnvoll? (Sie müssen hier nicht alle Einsatzgebiete aufzählen, das kann ich in einem Extra-Kasten machen, den ich Ihnen vorab mit dem Interview zum Gegenlesen schicken würde. Darin würde ich auch Gegenanzeigen und Nebenwirkungen erwähnen)
So nennt Andreas Schorn sie. Ich finde sie in erster Linie als Lebewesen superspannend, egal, ob sie uns nützen oder nicht.
Wie läuft so eine Therapiesitzung ab? Können Sie aus eigener Erfahrung berichten?
Das macht jede:r anders. Es erfolgt ein Aufklärungs-Gespräch, Ausschluss-Diagnosen, damit es keine Quatsch-Behandlung wird, und alles, was jede:r von guten Ärzt:innen, Therapeut:innen und Kräuterhexleins kennt. Meine Erfahrungen liegen eher darin, sie Tiere für den Kurs zu füttern oder mit ihnen Lern-Versuche zu machen.
Was genau bewirkt die Blutegeltherapie?
Die behandelten Menschen fühlen sich ernst genommen, müssen Einsatz zeigen, es wollen und mitmachen. Das weckt die Lebenskräfte. Und sie erzählen vielleicht spannende Dinge über ihre Erkrankung, die bei einer Blitz-Behandlung vergessen würden, und dann ein anderes Licht auf ihre Beschwerden wirft.
Medizinische Blutegel werden bereits seit rund 3000 Jahren eingesetzt und kamen im 19. Jahrhundert so übermäßig zum Einsatz, dass sie dadurch fast ausgerottet wurden. Heute spielen die Würmer eine vergleichsweise kleine Rolle in der Medizin. Die Krankenkassen übernehmen die Blutegeltherapie nicht. Können Sie sich erklären warum?
Weil wir heute aus gutem Grund lieber doppelt verblindeten Studien trauen. Diese sind mit Blutegeln aber kaum möglich, da alle wissen, ob sie gebissen wurden oder nicht...
Sie berichten in Ihrem Buch von neuen Einsatzmöglichkeiten im medizinischen Bereich. Können Sie ein paar nennen, die Sie besonders spannend finden?
Ich finde es einfach gut, in Ruhe mit Menschen, hier den Patient:innen, zu reden. Die Blutegel sind da für manche ein möglicher Aufhänger.
Es gibt mittlerweile künstliche Blutegel. Können die die lebenden Tiere ersetzen?
Geschmackssache. Ist eine Massage durch einen Menschen wirksamer als durch einen Roboter oder einen Massagesessel? Meist vermutlich schon. Denn es geht ja auch um echte Berührungen, echte Mitteilungen, an echte Menschen jeweils angepasstes Handeln.
Aus Hygienegründen werden Blutegel nur einmal eingesetzt. Meistens werden die Tiere nach dem „Gebrauch“ getötet. Gibt es Möglichkeiten, eine tierfreundlichere Therapie zu machen?
Andreas und ich schlagen vor, sie als Heimtiere zu halten. Perfekt ist das auch nicht, aber tausendmal besser, als sie einfach wegzuwerfen. Wer mit Liebe zum Egel gestaltete, gut belüftete, saubere Aquarien hat, kann den Tieren ein echt annehmbares Zuhause geben. Sie sind toll zu beobachten und können wie angedeutet auch etwas lernen.
Sie widmen in Ihrem Buch ein Kapitel dem Blutegel als Heimtier. Wer medizinisch davon profitiert, könnte auf die Idee kommen, sich medizinische Blutegel zu halten und sie selbst anzusetzen. Ist das ratsam?
Biologisch gesehen vermutlich kein Problem, aber ich möchte keine medizinischen Ratschläge erteilen. Es ist wie bei Alltagsmasken gegen Corona: Erst wollte niemand den Menschen zutrauen, dass sie die Masken tragen und regelmässig waschen, jetzt geht's auf einmal doch ganz gut. Ich traue Menschen zu, dass sie ihre Egel selbst züchten, aber vermutlich ist das medizinisch anders geregelt.
Auch pharmazeutisch sind Blutegel von Bedeutung. Sie schreiben, dass die Pharmaindustrie jedes Jahr Millionen von Tieren fängt und zermanscht, um den Wirkstoff Hirudin für Salben zu gewinnen. In welchen Salben findet sich dieser Wirkstoff? Was kann ich tun, wenn ich diese Praxis nicht unterstützen will, gibt es Alternativen?
Einfach nichts kaufen, wo Tierprodukte drin oder dran sind. Mache ich schon lange so, echt kein Problem. Ausnahme sind lebensnotwendige Arzneien, aber eine Salbe gegen Knutschflecke ist vielleicht nicht so lebensnotwendig.