Haben die Deutschen Zukunftsangst, Dr. Benecke?

Quelle: ZIMMER EINS — Das Patientenmagazin, Ausgabe 4/2019, Seite 9

Von Mark Benecke


Hier schreibt Dr. Mark Benecke, ob es die oft zitierte „German Angst“ wirklich gibt – und was die Deutschen von Franzosen und Italienern unterscheidet.

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Seit einem Jahr gehen die Kids für Arten- und Klimaschutz auf die Straße. Sie haben einen guten Grund: Wenn die Menschheit so weitermacht, haben nachfolgende Generationen keine Lebensgrundlage mehr. Doch die „jungen Leute“ sollen zur Schule gehen, anstatt zu demonstrieren. Warum? Wenn wir die Umwelt weiter belasten, wird es bald keine Schulen mehr geben. Die Sorge, dass durch das Schwänzen die Ausbildung dringend benötigter Fachleute auf der Strecke bleibt, ist bei manchen größer als die Angst vor den Folgen des Klimawandels und des Artensterbens

Diese Mischung aus Ordnungsglaube, Sorge an den falschen Stellen und Wirklichkeitsverdrehung ist ein Beispiel für „German Angst“. Kein Wunder: Die Idee des steuernden Staates kommt von den Preußen, die den Flickenteppich aus Kleinstaaten mithilfe von Ordnung und protestantischem Arbeitsethos geeint haben. Der oft ängstliche deutsche Blick auf die Zukunft ist eine Folge der zwei Weltkriege und der materiell unsicheren Nachkriegszeiten. 

In Nachbarländern ticken die Menschen anders. Sind Franzosen oder Italiener mit Entscheidungen ihrer Regierung nicht einver-standen, streiken sie so lange, wie sie wollen. Ob die Volkswirtschaft darunter leidet, ist für sie zweitrangig. Die Menschen dort haben einfach viel weniger Ehrfurcht vor dem wirtschaftlich starken Staat. Und ihre Rezessions-angst ist deutlich geringer ausgeprägt als in Deutschland. 

Unser deutsches Zaudern hat auch gute Seiten. Es geht mit der Liebe zur Dauerhaftigkeit einher, unserer Superkraft. Planungssicherheit über alles. Als Forscher merke ich das regelmäßig. Neulich arbeitete ich mit einer Kollegin in Kolumbien in ihrem hervorragend eingerichteten Labor. Und was passierte? Die Mittel wurden urplötzlich gestrichen und alles ging wie ein tropisches Gewitter den Bach hinunter. Die Arbeit von Jahrzehnten zerfiel und zerstreute sich.

Das passiert in Deutschland sehr selten. Auch ich leide manchmal unter einer Sonderform von „German Angst“. Weil ich mich vor Verlust fürchte, besitze ich einfach sehr wenig. Und immer, wenn mich mittel- oder südamerikanische Kolleginnen zum Tanzen auffordern, merke ich: Ich habe eine unheimliche, irrationale Angst vorm Tanzen. German Angst eben.

„Unser deutsches Zaudern hat auch gute Seiten. Es geht mit der Liebe zur Dauerhaftigkeit einher, unserer Superkraft. Planungssicherheit über alles.“

ZUR PERSON

Dr. Mark Benecke
Seit mehr als 25 Jahren ist der „Herr der Maden“ als wissenschaft­licher Forensiker zum Beispiel im Bereich der Insektenkunde aktiv. Er ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren und untersuchte unter anderem Adolf Hitlers Schädel. Er veröffentlicht Artikel, Sach- und Kinderbücher und entwickelt Experimentierkästen. In seinen Vorträgen geht er gemeinsam mit dem Publikum auf Spurensuche.

(*) Ich erhalte für diese Kolumne übrigens weder Geld noch sonst irgend etwas. — MB


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