Quelle: https://wald.journalistenschule-ifp.de/die-dunkle-seite-des-waldes/
Tatort Wald
Ort der Sehnsucht, Ort der Angst: Kein Naturraum ist so widersprüchlich besetzt wie der Wald. Auf der einen Seite von Künstlern und Autoren romantisiert, auf der andern Seite als schauriger, düsterer Ort in Werken verewigt. Im Interview erklärt Kriminalbiologe Mark Benecke, was am schlechten Ruf des Waldes dran ist und welche Herausforderungen einen Forensiker bei einem Wald-Tatort erwarten.
Wälder werden in Büchern und Filmen häufig als Verbrechensorte dargestellt. Ist das realistisch?
Mark Benecke: Ja, klar. Im Wald findet man schon mal Leichen von Menschen, die Suizid begangen haben. Manchmal wandern die durch die Gegend und landen irgendwo im Wald oder in einem waldigen Gebiet. Das ist dann insofern ein Tatort, weil man am Anfang nicht weiß, ob es sich um ein Delikt oder einen Suizid handelt. Und es gibt im Wald natürlich auch Sexualdelikte. Dass Joggerinnen oder Jogger überfallen werden oder dass Menschen in den Wald gelockt werden.
Wir finden Leichen im Wald, die sind dann schon verfault, weil sie spät gefunden werden. Und deswegen ist das Augenmerk stärker auf sie gerichtet. Das ist eine Art Stichprobenverzerrung. Denn die meisten Leichen sind Wohnungsleichen und die meisten Konflikte, Auseinandersetzungen und Tötungen finden unter Leuten statt, die sich kennen. Und dann sind da noch Gaststätten beispielsweise, also Räume, in denen sich Leute kennen und auch treffen. Jeder kann sich selbst fragen, wie viele Leute sich heutzutage noch im Wald treffen, um etwas auszudiskutieren.
Woher stammt denn dann der schlechte Ruf des Waldes?
Benecke: Diese Geschichte, dass im Wald etwas passiert, kommt daher, dass es früher echte Räuber im Wald gab — wie im Kindermärchen. Der Räuber Hotzenplotz ist so eine Ausprägung davon oder der Räuber Kneißl, der in Bayern sehr bekannt ist und den es wirklich gab. Auch der Schinderhannes hat wirklich gelebt. Die haben im Wald Wegelagerei betrieben und dabei alles begangen: Raub, Sexualdelikte, Mord. Wozu sie gerade Lust hatten. Der Wald war daher früher als sehr schlecht kontrolliertes Gebiet ein wichtiger Ort für alle möglichen Straftaten und Tötungen.
Welche Herausforderungen warten denn auf einen Forensiker im Wald?
Benecke: Die größte Herausforderung ist, einen Tatort im Wald abzuschirmen. Eine Wohnung oder beispielsweise eine ganze Kirche ist kein Problem. Irgendjemand weiß, wo Ein- und Ausgänge, der Keller, die Krypta oder die Dachluke sind. Das hört sich vielleicht nicht so spannend an, weil viele eher an die eigentliche Leiche oder den Tatort denken, aber das Abschirmen ist tatsächlich das größte Problem.
Hobbykriminalisten können sich gerne im Internet betätigen, aber die sollen nicht so tun, als ob sie sich mit Spurenkunde auskennen oder mit polizeilicher Arbeit. Jemand, der noch nie mit Insekten auf Leichen gearbeitet hat, der soll am Fundort bitte nicht unsere Tiere verscheuchen. Es gibt zum Beispiel Kurzflügelkäfer, die wegfliegen, wenn man sich falsch bewegt. Und manchmal geht es eben um die erwachsenen Tiere und nicht um die Larven, die nicht so schnell wegkriechen können. Im Interesse der Gesellschaft, der Toten und der Angehörigen sollte man bei der Spurensicherung Ruhe haben.
Wie lange halten sich Spuren im Wald?
Benecke: Ganz grundsätzlich: Spuren halten sich im Prinzip ewig. Natürlich kann sich irgendetwas zersetzen, irgendwas kann weggeschleppt oder gefressen werden, irgendwas kann sich von selbst auflösen. Es ist aber so, dass viele Spuren sehr lange haltbar sind — je nachdem, wo sie eben sind. Insekten können zum Beispiel vertrocknen.
Sobald sie vertrocknen und diese Stelle des Waldes trocken genug ist, können die sich sehr lange halten. Meine Mitarbeiterin Tina und ich haben mal Mumien untersucht, die waren mehrere Jahrhunderte alt und die ganze Zeit öffentlich zugänglich. Die Insekten im Mund hat sich kein Mensch jemals angeguckt.
Die Faustregel ist: Gehe davon aus, dass die Spuren noch da sind und wenn sie nicht da sind, hast du Pech gehabt. Da muss man mit kindlicher Neugier und Zuversicht rangehen.
Kommt Ihnen als „Herr der Maden“ ein Tatort im Wald entgegen?
Benecke: Bei Wohnungsleichen ist es so, dass wir die Kinder der Schmeißfliegen, die „Liegezeit-Uhren“, sehr viel besser kennen. Wir wissen, wie schnell sie wachsen und in Räumen haben wir halbwegs kontrollierte Temperaturen. Die wachsen nämlich schneller, wenn es wärmer ist und langsamer, wenn es kälter ist. Deswegen sind Tatorte in Räume eigentlich besser.
Auf der anderen Seite sind Wälder viel interessanter, weil es dort mehr Insekten gibt. Und die entwickeln sich verschieden. Sie haben verschiedene Vorzugsorte und kommen zu verschiedenen Zeiten. Sie gehen auf trockene Leichen, auf käsig, breiig zerlaufene Leichen, sie gehen auf halbtrockene, schinkenartig geformte Leichen. Und das ist im Wald natürlich viel interessanter und aufschlussreicher. Nur ist es auch viel mehr Arbeit, weil sich kaum jemand damit auskennt.
Das Interview führte Lisa Konstantinidis / KNA-Katholische Nachrichten-Agentur (August 2020)