Mark Benecke: "Verwesung ist nichts Widerliches"

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"DER HERR DER MADEN"
Dienstag, 22. Mai 2018 von red

Der Forensiker untersucht Maden auf Leichen und hilft so, Kriminalfälle zu lösen Er ist Forensiker, er untersucht Leichen, aber nicht nur das: Sein Spezialgebiet ist die Entomologie, sprich Leicheninsekten, das heißt er untersucht allen voran Maden und Insekten auf Leichen. Die Rede ist vom wohl berühmtesten Kriminalbiologen Deutschlands, Dr. Mark Benecke. Mit News.at sprach der „Herr der Maden“ über seine doch eher außergewöhnliche Arbeit, Ekelgefühle und den Unterschied seiner Arbeit zu jenen von TV-Forensikern.

Dr. Mark Benecke, wann wird ein Kriminalbiologe wie Sie gerufen? 

Dr. Mark Benecke: Immer dann, wenn die Ermittlungsbehörden oder Angehörige in einem Fall nicht weiter wissen.


Und was machen Sie dann? 

In meinem Job mache ich zwei Sachen: Entweder bin ich als Spurenkundler tätig und gucke nur die Insekten an. Dann kann ich beispielsweise manchmal sagen, dass ein Insekt fünf Tage auf der Leiche gelebt hat, oder dass eine Leiche mit Sicherheit längere Zeit in einem Haus gelegen hat und nicht an der Stelle, wo sie gefunden wurde. Der Rest des Falls ist mir dabei vollkommen egal. Wenn es aber um Tatortrekonstruktionen geht, hole ich mir alle möglichen Infos heran und rede mit jedem, der irgendetwas wissen könnte. Ich liefere aber stets nur Mosaiksteinchen, um die Fälle zu lösen.

Worauf kommt es bei dieser Arbeit am Tatort an? 

Gar nichts zu glauben, was ich sehe. Zum Beispiel: Nur weil sich Sperma zwischen den Beinen des Opfers befindet, heißt das nicht automatisch, dass es auch vergewaltigt wurde. Niemals darf man das annehmen, was vermeintlich offensichtlich ist — ganz im Gegenteil. 

Auch Banalitäten können interessant sein, zum Beispiel rostiges Wasser, das an die Wand gespritzt ist. Oder es gibt eine völlig verweste Leiche und fünf Tage vorher wurde Geld abgehoben. Da ist die Frage: Kann die Leiche so schnell verwesen oder nicht? Dann können Insekten helfen, den Todeszeitpunkt zu bestimmen.

Was kann denn eine Made über einen Mordfall erzählen? 

Anhand des Alters bestimmen wir die Besiedlungszeit der Leiche. In Insekten an Leichen finden sich auch Gifte, die in der Leiche vorkamen, auch wenn die Leiche schon zersetzt ist. Manche Tiere leben auch bevorzugt in Wohnungen. Finden wir die Leiche im Freien, dann wissen wir, dass sie vorher schon in einer Wohnung gelagert worden war.

Ab wann befinden sich Maden auf Leichen? 

Die Schmeißfliegen nehmen schon sehr früh Butan-1-ol und Dimethyldisulfid von der Leiche wahr. Wenn es also warm ist und die schwangeren Weibchen Zugang zur Leiche haben, dann kommen sie "sofort". Wie das aber in der vierzehnten Etage aussieht, hängt von vielem ab: Dem Wind, dem Schalt-Zyklus der Lampe auf dem Gang, der Umgebung (ländlich, städtisch, wie beleuchtet)... das müssen wir möglichst alles erstmal erkunden, bevor wir gutachterlich antworten.
»Maden sind aufrechte, coole, vernünftige Gegenüber«

Finden Sie diese Arbeit nicht ekelig? 

Verwesung ist nichts Widerliches, sie ist notwendig für den Kreislauf des Lebens, sonst würden sich überall tote Menschen und Tiere stapeln. Für mich ist eine Leiche ein Spurenträger. Maden sind außerdem aufrechte, coole, vernünftige Gegenüber. Sie sind wichtige, schöne, informative, biologisch sinnvolle Lebewesen. Ich mag aber auch Fauchschaben, die halte ich als Haustiere. Die können fauchen, und ich nehme sie mit zu meinen Vorträgen.

Vor was ekeln Sie sich? 

Foto: Rocksau Pictures

Foto: Rocksau Pictures

Vor Leberwurst und überhaupt allen Sorten Hackfleisch, Würstchen & Co. Haare im Abfluss kann ich auch nicht leiden. Warum Menschen Milch trinken, erschließt sich mir auch nicht.


Wie oft helfen diese Insektenspuren tatsächlich bei der Lösung eines Falles? 

Das hängt vom Interesse der ErmittlerInnen ab. Wir haben Jahre gehabt, da sind wir im Sommer jeden Tag rausgefahren. Jetzt gibt es andere Schwerpunkte — den Terrorismus zum Beispiel. Wir arbeiten heutzutage eher mit Blutspuren, Fingerabdrücken, DNA, randständigen, angeblichen Wundern und dergleichen. Darüber berichten aber nicht so viele, weil es nicht so spannend ist.

»Es ist 'ne Superschwäche, aber mit einer Superstärke im Paket.«

Gehen Ihnen Kriminalfälle, zu denen Sie hinzugezogen werden nahe bzw. wie schaffen Sie es, grausame Taten nicht zu nahe an sich ranzulassen? 

Ich schaue mir lieber Details an anstatt das Große, Ganze oder Emotionale. Mein Gehirn filtert alles heraus, was keine Spuren sind. Das fällt dann einfach durch. Das ist aber ein Charakterzug, den kann man nicht lernen, wie die Erfahrung mit den Studierenden zeigt. Häufig geht dieser Wesenszug mit gesenkter Sozialkompetenz, einer großen Liebe für Details und fürs Sortieren sowie einem sehr klaren, direkten Blick auf Tatsachen, die andere emotional auslegen, einher. Das ist wie bei den X-Men: Es ist 'ne Superschwäche, aber mit einer Superstärke im Paket.

»Im Hubschrauber beim FBI musste ich brechen.«

Genau diese Superstärke gepaart mit gesenkter Sozialkompetenz, diese Nerd-Eigenschaften, sind ja dank „Big Bang Theory“ und Co. nicht komisch sondern eher cool. Gefällt Ihnen dieser Trend? 

Ich will nicht cool sein, und ich bin es auch nicht. Ich kann keinen Sport, steige garantiert in das einzige Schlammloch weit und breit und hatte noch nie einen Führerschein. Im Hubschrauber beim FBI musste ich brechen. Ich sehe in meiner Arbeit wirklich ganz zutiefst die Schönheit in der Natur und bin in erster Linie Biologe, nicht Kriminalist — das ist nur die Ausübung meiner biologischen Tätigkeit. „Big Bang Theory“ kenne ich nicht, ich habe keinen Fernseher. (Seine Frau Ines sagte in einem Interview dazu: „Er ist zu 100 Prozent der leibhaftige Sheldon Cooper.“)


Wie unterscheidet sich Ihre Arbeit von der Ihrer TV-Kollegen? Gibt es etwas, was am Bildschirm immer falsch dargestellt wird, wo sie jedes Mal den Kopf schütteln? 

Nein, ich weiß doch, dass das Fiktion ist. Bei „Findet Nemo“ sprechen die Fische, und da beschwere ich mich ja auch nicht bei Disney darüber.


Heben Sie einen Lieblingsforensiker im TV oder Film? 

Foto: Julian Roeder/OSTKREUZ: Dr. Mark Benecke, "Herr der Maden" in der alten Kapelle der Charité in Berlin

Foto: Julian Roeder/OSTKREUZ: Dr. Mark Benecke, "Herr der Maden" in der alten Kapelle der Charité in Berlin

Ich habe wie gesagt noch nie fern gesehen, aber im Kino sind die Figuren — logo — zur Unerkennbarkeit überzeichnet, beispielsweise Batman. Er ist ja nicht nur Ermittler, manchmal auch eine Art Rächer, sondern auch Spuren- und Daten-Experte. Ein sehr guter Ermittler ist Rorschach aus "Watchmen", aber ich bin ja wie gesagt Spurenkundler und arbeite anders.


Ihre Vorträge sind stets ausverkauft: Warum sehen sich die Leute so gern so etwas an? 

Früher haben die Menschen dauernd Leichen gesehen, im Krieg oder wenn die Oma im Wohnzimmer oder beim Bestatter aufgebahrt wurde. Diese unmittelbare Begegnung mit dem Tod gibt es heute kaum noch. Menschen wollen aber wissen, was am Rande der Gesellschaft und der Wahrnehmung los ist. Sie wünschen sich, dass jemand ihnen diesen Rand erklärt. Sie möchten sich dem Wahren — auch dem Unschönen und "Bösen" — aussetzen, aber danach soll einer das Tor zur Hölle wieder zumachen. Das mache ich.


Wer kann Sie beauftragen? 

Mein Team und mich kann jeder beauftragen. Ich arbeite für den Staat, auch für die Angehörigen der Toten, wenn sie nicht zu traumatisiert sind und mit anwaltlicher Hilfe noch eine Akte zusammenstellen können. Uns beauftragen auch Menschen, die zugeben, eine Tat begangen zu haben - die aber beweisen wollen, dass sie ganz anders abgelaufen ist. Das kann sich stark aufs Strafmaß auswirken (Notwehr vs. Heimtücke), aber das geht mich nichts an. Für mich ist es eine Frage der Wahrheit und Klarheit.

Foto: Ines Benecke / "Menschen wollen wissen, was am Rande der Gesellschaft und der Wahrnehmung los ist", sagt Mark Benecke.

Foto: Ines Benecke / "Menschen wollen wissen, was am Rande der Gesellschaft und der Wahrnehmung los ist", sagt Mark Benecke.


» Ich trenne nicht zwischen Freizeit und Arbeit«


Neben ihrer Arbeit als Forensiker halten Sie eben auch Vorträge, sind im Radio, im TV und auch noch Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der Partei „Die PARTEI“. Sie sind ein wahrer Tausendsassa... wie schaffen Sie das alles, schlafen Sie? 

Der Trick ist, unbedingt genug zu schlafen. Unterwegs, also fast immer, ist das von zwei Uhr nachts bis neun Uhr morgens - das geht erstaunlicherweise. So sind meine Frau Ines und ich fit genug, um die ganzen schönen Dinge zu stemmen. Nicht schlafen geht nicht. 

Achja, und wir trinken fast keinen Alkohol mehr, das war auch eine interessante Umstellung - geht aber nicht anders. Jedes Glas Bier kostet eine halbe Stunde hellwacher Einsatzzeit. 

Und ich trenne nicht zwischen Freizeit und Arbeit. Für mich ist das alles eins, ich mache das, was ich gerne mache.

Info: Dr. Mark Benecke ist am 6. und 8. Juni live im Wiener Rabenhof Theater

Der wohl bekannteste deutschsprachige Kriminalbiologe war der Erste, der Hitlers Schädel in Moskau untersuchen durfte. Nun teilt er seine Erkenntnisse erstmalig auch der österreichischen Öffentlichkeit mit – eines kann aber jetzt schon festgehalten werden: Der Führer hatte Mundgeruch.