Quelle: Gothic 88 / 2019, S. 16—17
Von Sabrina Beck
Klar, gestorben wird immer. Trotzdem hat man irgendwie das Gefühl, dass „immer in den letzten Jahren zu „immer öfter wurde. Vielleicht liegt das daran, dass uns einige der Großen unserer Tage verlassen haben. Vielleicht daran, dass das Thema Sterbehilfe in der Gesellschaft so laut wie kontrovers diskutiert wurde und wird. Vielleicht daran, dass wir mehr und mehr „Grausamkeiten" mitbekommen, als wir ertragen können oder wollen. Aber es ist eben unbestritten: „Alle Pfade, die zum Leben führen, alle führen zum gewissen Grab", um es mit Friedrich Schiller zu sagen.
Über das Thema Tod in den unterschiedlichsten Facetten sprachen wir ausgiebig mit einem, der tagtäglich damit konfrontiert ist: Der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke wirft im Folgenden einen wissenschaftlichen wie emotionalen Blick auf dieses sensible und leider oft viel zu einseitig betrachtetes Thema.
Eine provokante Frage: Kannst du Suizid nachvollziehen?
Na ja. Sozial sehe ich vor allem die Auswirkungen, die Suizide auf die Geschwister, Eltern, Großeltern, Schulklassen, Vereine, Nachbarn und sogar auf Menschen haben, die es nicht mehr zur Hochzeit ihrer Freundinnen schaffen, weil drei Züge nach sogenannten „Schienen-Suiziden' — heute 'Personen im Gleis' genannt — ausfallen. Die Sicht auf andere finden akut depressive Menschen natürlich herzlos, da sie ja tödlich krank und am Ende ihrer Kräfte sind. Das ist auch unbestritten wahr. Nun war ich aber im vergangenen Jahr bei der Tagung der American Academy of Forensic Sciences beim Vortrag meiner zahnkundlichen Kollegin Gwenola Drogou. Sie hat nach dem von Andreas Lubitz geplanten und durchgeführten Germanwings-Flugzeug-Absturz mit einem rasch zusammengestellten Team die zerstörten Leichen — anhand von deren Zähnen — identifiziert. Es waren unter anderem 16 Zehntklässler und ihre Lehrerinnen an Bord, die ihre Partnerschule besuchen wollten und alle — O-Ton der Kollegin — „wie eine Ziehharmonika" samt Flugzeug zerquetscht wurden.
Oft genug sitzen Angehörige auch bei uns im Labor, die nach einem sogenannten 'erweiterten' Suizid die Welt nicht mehr verstehen: Was würdest du tun, wenn dein Bruder erst seinen kleinen Sohn in den Wald mitnimmt, dort tötet, die Leiche unauffindbar versteckt und dann sich selbst umbringt? Das ist ein echter Fall von uns. Und was würdest du fühlen, wenn dein Bruder das alles laut Abschiedsbrief vor allem darum getan hat, damit deine Schwägerin ihr Kind nie wieder sehen kann, tot oder lebendig? Ich sehe also viele Seiten rund um Suizide, nicht nur die, die krankheitsbedingt den akut Depressiven und ihrer Umgebung Energie rauben, sondern auch die Lebenswege der Hineingezogenen, die nach einem Suizid damit umgehen müssen.
Am schlimmsten sind eigentlich die Vorwürfe, die sich Freunde und Verwandte oft den Rest ihres Lebens machen. Hart sind auch religiöse und „psychosoziale- Schwierigkeiten bei Menschen aus Kulturen, in denen der Suizid eines Angehörigen die sen schnurstracks in eine angebliche Hölle oder so was führt. Ich habe darüber schon Klientinnen, die einen Suizid in der Familie hatten, selbst depressiv werden sehen. Suizide sind bei Depressionen und anderen Erkrankungen übrigens sehr häufig. Es gibt in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Luxemburg zusammengenommen über 15.000 Selbsttötungen pro Jahr (yep, richtig gelesen), darunter jährlich Hunderte unter 25-jähriger.
Borderlinerinnen töten sich beispielsweise in den USA 400-mal häufiger als der Durchschnitt der dortigen Menschen. In Deutschland bringt sich — je nach wissenschaftlicher Quelle — jede*r zehnte bis 20. Borderlinerin um, Das müsst ihr euch mal vorstellen! Geht mal in Gedanken über ein Gothic-Festival viele Gruftis kennen die schreiende Verzweiflung, die dahintersteckt. Kurz gesagt: Ja, ich habe mit Suiziden viele Berührungen und viel Berührung. Und ja, ich höre mir seit mittlerweile über 25 Jahren alle Seiten des Problems an, sehe die Leichen, rede mit den Angehörigen, sehe die Ermittlungsprobleme und tüftele an Tatort-Rekonstruktionen.
Im Mai ist auch mein Vorwort zum Lebensbericht eines depressiven Videogame-Bloggers erschienen: Julian Laschewski, 'Nur in meinem Kopf'. Obwohl sich Julian fast nur um sich selbst dreht, hat er die Kurve gekriegt. Zack! Das Vorwort ist gratis online.
Bedeuten Friedhöfe etwas für dich?
Ja, es sind oft sehr schöne Biotope mit Fledermäusen, Insekten, teils auch Füchsen und oft tollen, verwilderten Mauern mit hübschen Pflanzen, die ich in Flora Capturem, einer schicken Pflanzen-App, einspeise. Es hängt aber natürlich vom Friedhof ab. Als ich in der Kölner Rechtsmedizin meine Doktor-Arbeit gemacht habe, grenzte unser Labor direkt an den endcoolen Melaten-Friedhof — hammer! Und in der alten Kölner Zoologie habe ich den ganzen Tag auf den alten Geusen-Friedhof geschaut, wo ich im Frühjahr oft Markusmücken gesehen habe. Deren Pate bin ich jetzt im Naturkundemuseum (MfN) in Berlin. Ich habe vor ein paar Jahren auch nächtelang in einem Mumienkeller in Palermo gearbeitet, der technisch und rechtlich ein Friedhof ist. Das war super, könnt ihr in „Mumien in Palermo", einem von Verlag sehr hübsch gemachten Buch von mir, nachschmökern.
Es gibt auch viele schöne Friedhofs-Bilder von und mit mir, beispielsweise vom alten deutschen Friedhof in Sighișoara in Transsylvanien. Toll war auch Jahre lang das "Hippie"-Grab einer Sannyasin voller Federn, Windspiele und Murmeln auf dem Melaten-Friedhof und natürlich der bis heute bekannte riesige, alte Stein-Sensenmann, nicht weit davon entfernt. Allerdings hat das dazugehörige Grab eine traurige Geschichte.
Ohnehin: Gerade erst hat sich eine Bekannte auf einem anderen, bekannten und besonders schönen Friedhof erhängt. Ihre sonst sehr weise und coole Lebenspartnerin, mit der ich befreundet bin, weiß seither nicht mehr, was sie sagen soll. Und ich weiß nicht mehr so genau, wie schön mir diese Ecke des alten Friedhofes vorkommen wird, wenn ich mal wieder dort hingehe.
Wenn es ein „Leben" nach dem Tod gäbe, wie würdest du es für dich gestalten?
Haargenau so weiter wurschteln wie bisher, falls das dann sinnvoll und angemessen sein sollte. Ich liebe, was ich auf dieser Erde tun darf.
Da wir eine Musikzeitschrift sind: Was wäre das letzte Lied, das du hören wollen würdest?
Hängt von der Tagesform, den Schmerzen, dem Stress oder den Opiaten und dem noch möglichen Humor ab. Vermutlich würde ich nur mit meiner Frau Händchen halten wollen und Blättern lebender Bäume beim Rascheln und dem Regen beim Rauschen zuhören. Aber wer weiß schon, was das Leben bis dahin so einrichtet. Es ist halt schwer zu entscheiden, ob ich die finsteren Stücke der von mir verehrten Leonard Cohen und Nick Cave noch angenehm finde, wenn ich gerade sterbe, oder eben doch nur, wenn ich es in absehbarer Zeit nicht tue.
Wir alle kennen die Personifikation des Todes als Skelett mit Kapuze und Sense; es gibt noch diverse andere Figuren, die den Tod darstellen, die aber allesamt recht düster sind. Wie sähe deine ganz eigene Personifizierung des Todes aus? Hahaha, da ich mit Micha Holtschulte („Tot aber lustig"), bei dem ich sogar in Cartoons auftauche, und „dem" Tod — einige erinnern sich: der Comedy-Mann, mit dem ich 2015 das Amphi-Festival im „Henkelmännchen" moderiert habe — befreundet bin, stelle ich mir den Tod ehrlich gesagt genau so vor. Die Sache mit der Kapuze und dem Mönchs-Gewand des Todes kommt meiner Meinung nach übrigens von den toten Kapuzinern, die in Palermo mit Kapuzen-Kutte bekleidet in der Gruft stehen.
Sterbehilfe ist ein in den letzten Jahren viel diskutiertes Thema in Deutschland. Wie stehst du zu der Debatte? Ist das ein Thema, das du eindeutig mit „Ja, ich bin dafür" oder „Nein, ich bin dagegen" beantworten kannst?
Ich bin hundertprozentig und eindeutig dafür, dass Menschen, die eine gemäß Stand der Forschung sicher unheilbare, höllisch schmerzende oder sonst wie fürchterlich einschränkende Erkrankung durchleiden, sich suizidieren dürfen oder Sterbehilfe in Anspruch nehmen dürfen müssen. Warum auch nicht? Nebenbei: Altenpflegerinnen mit Herz und Verstand wissen, was passiert, wenn jemand nur noch ein sich quälendes, unheilbares Häufchen Elend ist: Dann wird die Opiat-Menge erhöht, bis es nicht mehr wehtut. Ich verstehe deine Frage daher, glaube ich, nicht so ganz. Was würdest du tun, wenn du nur noch Schmerzen und Leid verspürst und niemand dir mehr helfen oder dich trösten kann?
Damit sind wir übrigens wieder am Anfang: Depressionen sind anders, nämlich meist so weit behandelbar, dass das Leben wieder rollt. Wer das nicht glaubt, weil er/sie/es allzu todessehnsüchtig ist: Schaut euch mal die Dokumentation „The Bridge" an. Dabei lief ein Jahr lang rund um die Uhr eine Kamera, die Suizid-Kandidat*innen gefilmt hat, die von der Golden Gate Bridge springen wollten oder es getan haben. Ich war verblüfft: Niemand der Geretteten bereute die Rettung. Niemand. Darüber bitte mal lange und ernst nachdenken.