Quelle: Archiv für Kriminologie Bd. 209 (2002), Seiten 45-50
Snuff. Filmhistorische Anmerkungen zu einem aktuellen Thema.
Von Mark Benecke
English text
Snuff. Comments on the historical backgrund of a current topic
The movie genre "snuff" appeared in the late 70s and shows the allegedly real, often cruel killing of people. More recently, a growing number of short video clips have been distributed via the internet, which also belong into this category and were clearly recognized as fictional on the basis of technical details by two study groups at the 80th Annual Meeting of the German Society of Legal Medicine held in Interlaken from 25 to 29 September 2001 (Schyma/Seidl).
By means of a brief review of film history the article shows that "snuff movies" originated from a certain prevailing trend, examples of which are the murder of the actress Sharon Taute by the group around Charles Manson, the development of B horror movies, a promotional campaign for a film which flopped in 1971 (renamed several times by the distribution company from "American Cannibal" to "Snuff" to "Big Snuff") and elements of urban legends.
Retrospectively there are no clues that Snuff films - i.e. movies openly distributed and actually available to the public, which were not private documentations found by the police at the homes of killers during investigations of homicides (such as in the murder series of the couple Bernardo/Homolka) - show real killings.
1. Einleitung und historischer Rückblick
Filme, in denen die angeblich reale Tötung von Menschen im Rahmen und zum Zwecke der Produktion eines Filmes gezeigt wird, bilden seit den späten 1970er Jahren ein eigenes Genre, das mit dem Begriff "Snuff" charakterisiert wird [4, 5, 10-12]. Davon abzugrenzen sind nicht auf dem Markt gehandelte Filme und Fotos, die im Zuge von Ermittlungen bei echten Tätern sichergestellt werden, wie etwa im nordamerikanischen Fall Homolka/Bernardo [13].
Das Genre "Snuff" entstand ursprünglich aus einem Marketing-Gag einer Verleihfirma, die einen gefloppten Film durch Rückgriffe auf Motive des Volksglaubens (vgl. dazu auch [1]) und aktueller Zeitströmungen bewarb. Zu den damaligen Rahmenbedingungen gehörten:
Der Mord an der Schauspielerin Sharon Tate, die am 9. August 1969 in ihrem Haus - im siebten Monat schwanger - von der Gruppe um Charles Manson durch 16 Messerstiche getötet wurde.
Die Gerichtsverhandlung gegen die Manson-Gruppe begann im Sommer 1970 und ging mit einer bis heute fortdauernden Stilisierung Mansons als Personifikation des Bösen einher. In seinem Buch "The Family: The Story of Charles Manson's Dune Buggy Attack Battalion" behauptete der Rockmusiker Ed Sanders erstmals, dass es Aufnahmen der von der Gruppe begangenen Tötungen geben müsse, die sich "irgendwo" versteckt oder im Umlauf befänden [5]. Auf der hierdurch installierten Legende, in der sich Wirklichkeit (reale Tötungen) und Mutmaßung (Existenz von Filmen/Fotos) für Außenstehende nicht erkennbar mischten, baute sich fortan der Glaube an "Snuff"-Filme und dessen Ausbeutung durch Werbemaßnahmen auf.
Das Aufkommen anspruchsloser, mit geringen Geldmitteln produzierter Horror- und Erotik-Streifen, die durch sensationelle Inhalte (als Ersatz für mangelnde filmische und dramaturgische Qualität) Marktlücken besetzten.
Die Vorstellung, dass in wirtschaftlich sich entwickelnden Ländern "ein Menschenleben nichts wert" sei. Dieses Motiv spielt heute in der weit verbreiteten Großstadtlegende von der in Mexiko oder Südostasien nach einem Trinkgelage herausoperierten ("gestohlenen") und verkauften Niere mit späterem Erwachen des Opfers in einem Eisbad mit. Hinzu kam der Eindruck, den fotografisch dokumentierte Kriegsgräuel wie diejenigen der USA gegen Vietnamesen machten.
Anfang 1976 tauchte in Manhattan ein Film auf, der die angebliche Tötung von Menschen beinhalten sollte. Das Filmposter am Times Square (National Theater) titelte dabei erstmals mit dem Begriff "Snuff" und spielte damit auf die bereits bestehende Legende an. Das Plakat zeigte ein blutiges, zerschnittenes Foto einer nackten Frau. Eine Unterzeile lautete: "Das Blutigste, das jemals vor einer Kamera geschah! Ein Film, der nur in Südamerika gemacht werden konnte - wo ein Menschenleben nicht viel wert ist!"
Es kam zu Protesten vor dem Kino ("Mord ist keine Unterhaltung"); dass es sich um eine reine Marketingmaßnahme handelte, wurde selbst in den New Yorker Zeitungen nicht erkennbar reflektiert [5]. Der Film war de facto bereits 1971 unter dem Titel "Slaughter" fertiggestellt worden. Er war in Argentinien gedreht worden, um Kosten zu sparen. Die Verleihfirma Monarch Releasing Corp., die sexuell gefärbte Filme vertrieb, schätzte den insgesamt schlechten Film, der zudem synchronisiert werden musste, jedoch als nicht vermarktbar ein und veröffentlichte ihn daher zunächst nicht.1
Erst als 1975 Lynette Alice Fromme, ein weiteres Mitglied der Gruppe um Charles Manson, versuchte, Präsident Ford zu ermorden und daraufhin eine Dokumentation über die Taten der Gruppe in Teilen der USA gerichtlich untersagt wurde, und als zudem der italienische Film "Savage Man ... Savage Beast" (1975) angeblich reale Aufnahmen der Tötung von amerikanischen Ureinwohnern sowie der Film "Brutes and Savages" (1975) den (wohl realen) Tod eines Menschen durch Bisse eines Krokodils zeigte, entschied sich Allan Shackleton, der Leiter von Monarch Releasing, den Film "Slaughter" nun unter dem Titel "Snuff" zu veröffentlichen. Die in vielerlei Hinsicht unzureichende Qualität des Filmes konnte jetzt durch das angeblich illegale Zustandekommen der Aufnahmen erklärt werden. Um diese Fiktion zu verstärken, wurden alle üblichen Spielfilmelemente wie Anfangstitel, Namen der Schauspieler, der Techniker usw. entfernt (Abb. 1).
Je nach Filmversion von "Snuff" - es wurden in der zweiten Version beispielsweise zusätzliche, später eigens gedrehte Filmteile eingefügt - finden sich im Film u.a. Kastrationsszenen, die angedeutete Tötung einer schwangeren Frau und, als doppelte Fiktion, die Tötung eines Technikers, der den Film dreht. Obwohl Verleihchef Shackleton gegenüber der Zeitschrift Variety anfangs behauptet hatte, "Snuff" stelle echtes Filmmaterial dar, zog er diese Aussage später zurück und gab zu, dass es sich um einen Spielfilm handelt [5]. Das wurde aber öffentlich nicht wahrgenommen.
2. Weitere Entwicklungen
Die im ersten Snuff-Film verwendeten Motive zeigen deutlich den Zeitzusammenhang, aus dem er entstand: Frauen als Täterinnen (Manson family; Frauenbewegung), angeblich illegal entstandenes Material.
Das Motiv des Snuff im Sinne absichtlich für den Film herbeigeführter Tötungen hat sich in Filmen wie "Special Effects" (1984) und "8 mm" (1998) [7] bis heute gehalten, wurde aber nie wieder so reißerisch beworben wie in den 1970er Jahren. Insbesondere im Film "8mm" wird der enge Bezug zu Problemen der Zeit deutlich - er handelt von der Tötung eines Kindes, wie sie seinerzeit wegen gleichartiger Verbrechen aktuell war. Andere Filme wie "Snuff - Vitimas do Prazer" (Inhalt: Film-Produzenten töten die Hauptdarstellerin; 1977, Regie: Cläudio Cunha) griffen das ursprüngliche Motiv auch noch einmal im Filmtitel auf.
Der Erfolg des Filmes "Snuff" bereitete verschiedenen weiteren Filmrichtungen den Weg, die aus einer losen Aneinanderreihung meist echter Tötungshandlungen an Tieren sowie Bildern bereits verstorbener Menschen bestehen, wobei aber die Fakten von einem durch den Film führenden Kommentar erkennbar gemacht werden; es handelt sich somit nicht um Snuff-Filme im eigentlichen Sinn. Am bekanntesten ist die Serie "Gesichter des Todes" (Faces of Death, Teil 1-4, 1978-1990).
Ein verwandtes Genre, das seinen Ursprung in den 1970er Jahren hat, bilden sogenannte "Mondo"-Filme, die sich mit den angeblich wahren Sitten und Gebräuchen von Menschen aus aller Welt beschäftigen und auf scheinbar authentische Darstellungen von Sex und Gewalt abzielen. Auch Mondo-Filme beuten bereits bestehende, hochgradig anachronistische Motive der Volksmeinung aus, etwa Vorstellungen über eine vermeintlich "verwilderte" Lebensweise fremdländischer Menschen.
Ein drittes Genre wird unter dem Begriff "Thrill Kill" gelegentlich von Snuff und Mondo abgegrenzt. Dabei tritt der Spielfilm-Charakter offen zutage. Eine typische Handlung in diesem Genre ist die Reise einer Filmcrew an Stätten kannibalischer Verbrechen; das Filmmaterial wird später von anderen Reisenden aufgefunden und dem Zuschauer somit in einer Doppelfiktion vorgeführt. Unter den Hauptvertretern dieser Gattung finden sich Ruggero Deodatos "Cannibal" (1976) und "Cannibal Holocaust" (1979), auch als "Jungle Holocaust" oder "Canibal Holocausto" veröffentlicht [3]. Im letztgenannten Film mischen sich reale Tötungen von Tieren (Schildkröte, Schwein usw.) mit dem Laien realistisch erscheinenden, aber mit Filmmitteln inszenierten Tötungen (u.a. einer bereits vollendeten Pfählung) von Menschen, einschließlich der Tötung der Filmenden.
Das Motiv angeblich wieder aufgefundener Filmrollen oder Videobänder, auf denen zuletzt auch die Tötung der Filmcrew zu sehen ist, wurde erst kürzlich wieder sehr erfolgreich in den Kinofilmen "Blair Witch" (1999) und "Book of Shadows" (2000) aufgegriffen [2, 6]. Weil die beiden Kinofilme auch im Internet als angeblich echt beworben wurden, wird vor allem "Blair Witch" von vielen leichtgläubigen Menschen für ein echtes Filmdokument gehalten.
Die in jüngerer Zeit via Internet massiv verbreiteten, sehr kurzen Filmsequenzen, die in das Genre Snuff fallen und angebliche Tötungen meist einer einzelnen Person zeigen, wurden auf der 80. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin von zwei Arbeitsgruppen anhand technischer Details als eindeutig fiktional erkannt [8, 9], Sie ähneln ihren filmischen Vorläufern aus den 1970er Jahren in Form und Inhalt - abgesehen von der verwendeten Digitaltechnik - und setzen damit eine seit 1975 ununterbrochene Filmtradition fort.
3. Schlussbemerkung
Ein kurzer Exkurs in die Filmgeschichte verdeutlicht, dass der in den 1970er Jahren zunehmende Zugang zu technischen und tricktechnischen Mitteln sowie bestimmte Zeitgeistströmungen die Entwicklung verschiedener Film-Genres förderten, die sich mit angeblich echten Darstellungen von Sexuellem und Gewalt einschließlich Tötungen beschäftigen. Diese Filme sind bis heute in darauf spezialisierten Ladengeschäften käuflich zu erwerben bzw. auszuleihen, wovon sich der Autor im Oktober 2001 in Manhattan persönlich überzeugen konnte (z.B. "Snuff" in zwei Versionen als VHS; "Cannibal Holocaust" als DVD usw.). Die Filme sind in der Regel nicht indiziert (Abb. 1).
Bei resümierender Betrachtung gibt es filmgeschichtlich keine Anhaltspunkte dafür, dass Filme des Snuff-Genres mit einer wirklichen Tötung von Menschen einhergehen oder einhergegangen sind.
Nachtrag: Am 20. Dezember 2001 wurden die Originale und alle Kopien der Video-Bänder im Fall Homolka/Bernardo auf Anweisung von Generalstaatsanwalt David Young von der Polizei in Niagara verbrannt. "Die Familien der getöteten Kinder haben lange genug gelitten", sagte er zur Begründung. "Niemand soll die Bänder jemals wieder sehen können." Das Gericht bewahrt lediglich eine schriftliche Beschreibung der auf den Bändern festgehaltenen Tatabläufe auf.
Der Autor dankt dem Regisseur Jörg Buttgereit (Berlin) und den Mitarbeitern von Kim's Video (Manhattan) für ihre Auskünfte und Hilfsbereitschaft. Frau Prof. Dr. med. Annelies Klein (Jena) war freundlicherweise bei den Nachforschungen behilflich.
Zusammenfassung
Filme, in denen die angeblich reale und oft grausame Tötung von Menschen im Rahmen einer Filmproduktion dargestellt wird, bilden seit den späten 1970er Jahren das Film-Genre Snuff. In jüngerer Zeit haben kurze Videosequenzen im Internet massiv Verbreitung gefunden, die ebenfalls in dieses Genre fallen und auf der 80. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin in Interlaken (25.-29. September 2001) anhand technischer Details von zwei Arbeitsgruppen (Schyma/Seidl) als eindeutig fiktional erkannt wurden.
Anhand eines kurzen filmgeschichtlichen Abrisses wird aufgezeigt, dass das Genre "Snuff" ursprünglich einer Zeitströmung entstammt; exemplarisch sind zu nennen: der Mord an der Schauspielerin Sharon Tate durch die Gruppe um Charles Manson, das Aufkommen zweitklassiger Horrorfilme, eine Werbekampagne für einen 1971 gefloppten Film (vom Verleih mehrfach umbenannt: American Cannibale/Snuff/Big Snuff) und das Auftreten von Großstadtlegenden.
Retrospektiv gibt es keinen Hinweis darauf, dass Snuff-Filme - das heißt Filmwerke nennenswerter Verbreitung mit realer Kaufmöglichkeit, die also nicht im Rahmen von Todesermittlungen direkt bei Tätern aufgefunden wurden (wie etwa in der Mordserie des Paares Bernardo/Homolka) - wirkliche Tötungen zeigen.
Literatur und Quellenverzeichnis
1. Benecke, M. (1997): Spontane Selbstentzündung von Menschen (Spontaneous Human Combustion): Widerlegung eines Kapitels aus dem Volksglauben. Vortrag 6. Frühjahrstagung - Region Nord - der Dtsch. Ges. f. Rechtsmed., Berlin (23.-24.5.1997)
2. Berlinger, J. (2000): Book of Shadows: Blair Witch 2. Artisan Entertainment, Santa Monica
3. Deodato, R. (1979/2000): Cannibal Holocaust. F. D. Cinematografia/Substance Films, Canada
4. Findley, M. (1974): Snuff. Cultvideo, o.O.
5. Kerekes, D., Slater, D. (1994): Killing for Culture. Creation Books (London, San Francisco)
6. Sänchez, E., Leonard, J. (1999): The Blair Witch Project. Haxan Films/Artisan Entertainment, Santa Monica and New York
7.Schumacher,J. (1998/1999): 8mm. ColumbiaPictures/Sony Pictures Entertainment, Culver City and New York
8. Schyma, C., Mattern, R., Bratzke, H. (2001): Erschießungsszenen im Internet: real oder virtuell? Rechtsmedizin 11: 147
9. Seidl, S., Hausmann, R., Betz, P. (2001): Fehlerquellen bei der Beurteilung von "Snuff Videos". Rechtsmedizin 11: 138
10. Shackleton, A. (1975/1999): Snuff. Substance Films, Canada
11. Smith, J. (1982): Snuff myth. Escapade 8: 22-25, 92-94 (zit. nach Stine)
12. Stine, S. A. (1999): The Snuff Film. Skeptical Inquirer 23 (3), Amherst (USA)
13. Williams, S. (1997): Invisible Darkness. The Strange Case of Paul Bernardo and Karla Homolka. Bantam Books, Random House (New York)
(1) Im deutschsprachigen Raum wurde der Film unter dem Titel "Big Snuff - American Cannibale - Bestialisch bis aufs Blut gequält" vermarktet.