Niedere Tiere in königlichem Gewand Musterbildung bei Schnecken Benecke CCI

Club Conchylia Informationen 1994(1):17-21

Niedere Tiere in königlichem Gewand: Musterbildung bei Schnecken
Kenner wie Laien bewundern die großartigen Ornamentierungen von Schneckengehäusen. Mancher fragt sich dabei, wie die einfach gebauten Weichtiere ihre Schalen so herrlich mustern können.

von Mark Benecke

Summary: A relative simple reaction diffusion mechanism explains the pattern formation on mollusk shells (and their skin).

Im pazifischen Makin Marakei soll es früher als Mutprobe gegolten haben, lebendige Conusschnecken zu erbeuten. Mehr als einmal hatten die Tiere einen ihrer bis zu fünfzig Giftzähne auf die tapferen Taucher abgeschossen und bei diesen zu Kopfschmerz, Atemlähmung oder sogar Herzversagen geführt.

Auch hierzulande stehen einige Conusschalen hoch im Kurs, wenngleich deren Beschaffung weniger Mut erfordert. Kopfschmerzen hingegen können sie weiterhin bereiten, allerdings eher aus finanziellen Gründen. Wie auch immer - poliert man die äußere Schalenschicht, die aus Eiweißen besteht, herunter, so treten, wie jeder Conchylienfreund weiß, vielgestaltige Muster zutage. Wie diese zustandekommen, soll der folgende Beitrag veranschaulichen.

Dazu betrachten wir zunächst einmal eine weniger kompliziert ornamentierte Molluske. In mitteleuropäischen Wäldern, Wiesen und alten Gärten, ja selbst so kargen Terrains wie Dünen findet sich in großer Zahl die Bänderschnecke Cepaea hortensis (Abbildung 1). Gewöhnlich trägt sie auf ihrer Schale fünf dunkle Spiralbänder, die von der Gehäusespitze bis zur Mündungslippe verlaufen. Die Untersuchung dieser einfachen, durchgehenden Bänderung liefert erste An-haltspunkte für das Verständnis der Musterbildung.

Offenbar geben Pigmentzellen an der Wachtumsfront der Schale laufend einen dunklen Farbstoff ab. Dieser wird an Ort und Stelle in das ansonsten gelblichweiße Gehäuse eingebaut. Wenn sich solche Pigmentquellen (in Abbildung 2 gerastert dargestellt) regelmäßig mit farbstofflosen Bereichen ohne Pigmentproduktion (Pfeile) abwechseln, entstehen zwangsläufig helle und dunkle Längsstreifen.

Etwas komplizierter wird die Sache bei der ebenfalls einheimischen Gefleckten Schnirkelschnecke Arianta arbustorum (Abbildung 1). Wie es der Name schon andeutet, ist ihre Schale nicht schlicht gestreift, sondern mit dunkelbraunen Flecken verziert. Um eine solche Fleckung zu erzeugen, müssen die farbstoffbildenden Zellen mehr können als einfach nur da zu sein oder nicht. Möglich wäre, daß sie beim Einfärben der Schale regelmäßige Produktionspausen machen. Dies würde immerhin zu unterbrochenen Streifen führen.

Nun sehen wir aber meist keine unterbrochenen Streifen, sondern stets Punkte und Flecken (die folgende Abbildung 3 zeigt als Bei- spiel dafür das Gehäuse der Bohrschnecke Natica stercusmuscarum). Das "Regelmäßige-Produktionspausen-Modell" ist demnach zu einfach. Eine bessere Erklärung bieten langsam eingeleitete Produktionspausen mit allmählicher Abnahme der Pigmenteinlagerung, die sich periodisch mit einem ebenso langsamen Produktionsbeginn (mit allmählicher Zunahme der Pigmenteinlagerung) abwechseln. Bei diesem Vorgang würden nicht einfach abgehackt gestrichelte Linien entstehen, sondern stufenlos heller und dunkler werdende Streifenstückchen - eine Art Fleckung.

Noch genauere Betrachtung eines Arianta-Gehäuses zeigt uns, daß wir der Wahrheit mit diesem Modell zwar schon ein gutes Stück näher gekommen sind, den Fall aber noch immer nicht ganz aufgeklärt haben. Das Muster ist noch komplizierter. Die "Flecken" muten uns in der Vergrößerung eher wie eine ungleichmäßige Tigerung an. Und in der Tat: Wie wir gleich sehen werden, ist der biologische Mechanismus, der dieses Tigermuster hervorbringt, bei der Raubkatze kein anderer als bei unserer harmlosen Schnirkelschnecke. Auch Schmetterlinge, Zierfische und diverse andere Tiergruppen finden wegen dieser Musterung ihre Liebhaber (Abbildung 4).

Wir sehen, daß ganz ähnliche Musterungen bei Schnecken, Säugetieren und Fröschen, also in völlig verschiedenen Tierklassen auftreten. Man nimmt an, daß die Dekors dabei auf die immer gleiche Art und Weise entstehen. Andernfalls hätte die Natur den zellulären Schalenkünstler bei jeder einzelnen Tiergruppe neu konstruieren müssen. Dies widerspräche jedoch dem konservativen Motto der Evolution: Was früher gut war, ist auch heute gut. Bei der Weiterentwicklung des Lebens geht eine erfolgreiche Idee, hier der Musterungsmechanismus, so gut wie nie mehr verloren.

Da der immer gleiche Grundmechanismus für die Entstehung von Mustern verantwortlich zeichnet, klärt dies zugleich einen scheinbaren Widerspruch auf. Dieser Widerspruch lautet: Warum tragen sehr nahe verwandte Arten wie die Bänderschnecke und die Gefleckte Schnirkelschnecke ein ganz verschiedenes anstelle eines besonders ähnlichen Musters?

Die Erklärung: Eine Mutation hat in dem einen Tier ein winziges Detail der Erbinformation abgewandett. Obwohl diese molekulare Veränderung sogar für Experten kaum zu entdecken ist, hat sie weitreichende Folgen. Von Stund an entstehen statt Streifen Flecken, Kreuze werden zu Schachbrettmustern und Zickzacklinien zu birnenförmigen Klecksen. Wie ist das möglich? Eine treibende Kraft muß durc winzigste Änderungen der Ausgangsinformation eine überwältigende Vielfalt an Mustern hervorbringe können.

Auf der Suche nach einer Lösung dieses verzwickten Phänomens stieß man auf eine Beobachtung aus der Chemie. Mischt man in einem Glas bestimmte Chemikalien mit Wasser, so passiert zunächst einmal gar nichts. Nach dreißig Sekunden jedoch wird die zunächst vollkommen durchsichtige Lösung schlagartig dunkelblau. Ohne, daß man einen Finger gerührt hat, wird die Flüssigkeit nach einer weiteren halben Minute wieder glasklar. Dann wieder blau, wieder klar - das Spiel setzt sich fort. Andere Substanzmischungen erzeugen sogar regelrechte Streifenmuster, die sich im Glas bewegen. Obwohl es wie ein Zaubertrick aussieht, handelt es sich nur um eine (allerdings lange unentdeckte) Variante chemischer Reaktionen, die man Oszillation oder Schwingung nennt. Eine ganze Handvoll solcher Umsetzungen ist mittlerweile bekannt. Das Prinzip, das diesem molekularen Wechselspiel zugrundeliegt, ist die Antwort auf unsere eingangs gestellte Frage nach dem Mechanismus der Musterentstehung auf Schneckengehäusen.

Wenn sich in unlebendigen Flüssigkeiten regelmäßige Farbänderungen einstellen können, sollte dies erst recht in den lebenden Pigmentzellen, welche die Conchylienschale färben, möglich sein. Die Grundidee ist dieselbe. Innerhalb der Farbstoffzellen beeinflussen sich anstelle der toten, anorganischen Moleküle sogenannte Biomoleküle oder Proteine. Sie haben jeweils eine typische Form. Deshalb können sie nur auf solche Moleküle einwirken, auf die sie gut passen. Die Proteine sind also durch ihre äußeren Form regelrechte Spezialisten, die bei nur wenigen, dafür jedoch ganz bestimmten Reaktionen mitmischen.

Als Endergebnis dieser Wechselwirkungen wird die Farbstoffproduktion geregelt. Proteine funktionieren hier als zelluläre Uhr, die den Pigmentzellen periodisch ihre Arbeitszeiten und Ruhepausen vorgibt. Dieser Arbeitsrhythmus wird aber nicht einfach dauernd wiederholt. Die verwegenen Muster von Conusschnecken etwa entstehen durch räumliche Verlagerungen der Färbeaktivität in der Schalenwachstumszone. Auch solche Verschiebungen kann das Modell der schwingenden Reaktionen erklären.

Dazu müssen entlang des Wachstums- und Färbebereiches Zellen liegen, die färben können, wenn sie nur wollen. "Wollen" heißt in diesem Fall: Wenn sie von ihrer inneren biologischen Uhr ange-schaltet werden. Zudem müssen diese Pigmentzellen miteinander in Verbindung stehen. Den Botendienst übernehmen wieder kleine Biomoleküle. Diesmal arbeiten sie nicht als Uhr, sondern als Informationsvermittler. Sie teilen den benachbarten Zellen mit, ob eine andere Farbstoffzelle gerade auf Touren kommt oder besonders viel oder wenig Pigment produziert. Damit diese Information einen Wert erhält, benötigt die Zelle noch eine letzte Sorte von Botenstoffen.

Dabei handelt es sich um Substanzen, welche die Nachbarzellen nicht nur über die Aktivitätszustände ihrer Herkunftszellen informieren, sondern in jenen die Pigmentproduktion anregen oder einschränken. Das Ausmaß der Förderung oder Hemmung ist abhängig davon, wie aktiv die Absenderzelle selbst gerade ist. Ein einfaches Programm für solche eine Zelle könnte lauten:

  1. Zu Beginn jeden Monats jeweils fünf Tage lang Farbstoff produzieren und vorne in der Schale einlagern
  2. Während der Arbeit alle Farbstoffzellen im Umkreis von soundsoviel Mikrometer durch Botenstoffe vom Arbeiten abhalten
  3. Während der Arbeitspausen alle Zellen im gleichen Umkreis zur Produktion anregen

Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt die jeweils benachbarten Zellen zum erstenmal in Betrieb gesetzt wurden, entsteht so ein Reigen von Wechselwirkungen. Probieren Sie es in Gedanken oder auf dem Papier aus!

Jede Färbezelle steht letztlich mit allen anderen in Verbindung. Alle Zellen arbeiten zusammen an der Gestaltung des Gehäuses mit, keine ist von der anderen unabhängig. Jedes einzelne Ereignis in jeder einzelnen Zellen kann auf alle anderen Zellen fördernd oder hemmend wirken - und umgekehrt.

Die verschiedenen periodischen Molekülschwingungen in den Färbe-zellen bewirken zusammen eine weitere, große Gesamtschwingung, welche die individuellen Oszilla-tionen überlagert. Jede Zelle wird so von allen anderen informiert und instruiert. Dies ist keine Metaphysik. Echte, handfeste Biomoleküle haben das zeitliche und räumliche Kommando - sie sind der gesuchte Schalendekorateur. Es ist sogar gelungen, eine Rechenvorschrift zu finden, die diese Vorgänge richtig beschreibt.

Der Computer erzeugt, wenn er mit dem richtigen Algorithmus gefüttert wird, echten Schalenmustern verblüffend ähnliche Bilder. Die nebenstehende Abbildung 5 zeigt den Ausdruck einer solchen Rechnung, bei der willkürlich bestimmte Einstellungen verändert werden können. Basierend auf diesen Vorgaben läuft dann das immer gleiche Programm. der Algorithmus, ab. Die errechneten Bilder verändern sich dabei je nach den gewählten Anfangsbedingungen. Bei Schnecken in freier Natur werden diese Vorgaben sowohl von der Erbsubstanz als auch durch Umwelteinflüsse gemacht.

Die Wachstumsfront der Schale können sie sich bei dem dargestellten Tannenbaumdekor auf jeder beliebigen Seite (oben, unten, links oder rechts) vorstellen. Dementsprechend setzt sich das Muster dann fort, d.h. es liefe in dieser Richtung die Gehäusespirale hinab.

Molekülschwingungen, die sich in mathematischen Formeln fassen lassen, erklären also die unglaubliche Vielfalt der Schalenmustern, die Sie alle schätzen. Und obzwar die wissenschaftliche Betrachtung dieses Wunders von einiger Anziehungskraft ist, bleibt doch· wie stets das Vergnügen an der Pracht und Mannigfaltigkeit der echten Tiere der ungleich größere Liebreiz.

Anmerkungen:

1 Einen besonders schönen Überblick darüber bietet z.B. das Titelblatt (der Club Conchylia Informationen XXV 2/1993
2 siehe dazu auch: Club Conchylia Informationen XXV 2/1993, Seite 57 - 61
3 Die sogenannte "Jod-Uhr" oder Braylieb-Hassky-Reaktion (1921)
4 Gleiches gilt im Prinzip auch für die Musterung der Haut von Nacktschnecken (z.B. Limax maximus).
5 Die Berechnung geht von einer Differenzialgleichung aus, die von Hans Meinhardt und Martin Klinglef am Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in TÜbingen entwickelt wurde. Eine dieser Rechenvorschriften hat freundlicherweise Herr Joachim Schaaf aus Köln fortentwickelt. Wenn Sie an einer Diskette mit dem Programm interessiert sind, wenden Sie sich bitte an den Autor dieses Artikels.

Literatur:

ERMENTROUT B, CAMPBELL J & OSTER G (1985): A model for shell patterns based on neural activity, The Veliger
GIERER A & MEINHARDT H (1972): A theory of biological pattern formation, Kybernetic 12: 30-39 MEINHARDT H & GIERER A (1974): Application of a theory of biological pattern formation based on lateral inhibition, J. Cell Sei. 15: 321-346
MEINHARDT H (1982): Models of biological pattern formation, The Academic Press, London
MEINHARDT H (1984): Models for positional signaling the treefold subdivision of and the pigmentation pattern of mulluscs, J. Embryol. Exp. Morph. 83: 289 -311 (Suppl.)
WELSH B J, GOMATAM J & BURGESS A E (1983): Three-dimensional chemical waves in the BelousovZhabotinski reaction , Nature 304: 611-614

Anschrift des Autors: Mark Benecke, Postfach 600111 , 50681 Köln