Das raetselhafte Gesetz von Kraft und Masse

Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Nr. 13/2002, Seite 63, 31. März 2002, Wissenschaftsteil (--Dies ist die Rohfassung des Artikels--)

Das rätselhafte Gesetz von Kraft und Masse
In der kommende Woche erscheint eine Studie, die allen Ernstes behauptet, dass sämtliche Antriebe in Natur und Technik an dieselbe Leistungs-Grenze stoßen.

Von Mark Benecke

"Moostierchen, Moräne, Muren, Müller (Fritz)" meldet mein Lieblings-Nachschlagewerk von 1912 auf der erfolglosen Suche nach dem Wort der Woche. Es lautet "Motoren" und ist durch einen am Dienstag erschienenen Artikel der Kollegen James Marden und Lee Allen von der Pennsylvania State University gerade hip.

Die beiden Biologen haben einen geistigen Schritt zurück getan, um übergreifend eine Frage zu beantworten, die Lehrer Bommel in der Feuerzangen-Bowle bereits vorformuliert, aber nur teils beantwortet hatte: Was ist eine Maschine?

"Da stelle mer uns janz dumm", antizipierte die rheinische Film-Figur 1944, "und da sage mer so: En Dampfmaschin, dat is ene jroße schwarze Raum. Der hat hinten un vorn e Loch. Dat eine Loch, dat is de Feuerung. Und dat andere Loch, dat krieje mer später." Den jroßen schwarzen Raum haben auch meine neuzeitlichen Kollegen auf sich beruhen lassen. Denn was genau in Maschinen und Motoren wirkt und wankelt, interessiert sie nicht. Stattdessen beschäftigten sich die beiden mit der viel wichtigeren Frage, wie es denn nun um "dat andere Loch" steht.

Das andere Loch, das ist die Kraft, die ein beliebiger Motor erzeugen kann -- unanhängig davon, wieviel Energie zuvor in ihn hineingesteckt wurde. Die Angelegenheit wirkt banal, denn sowohl die Wirkungsgrade als auch erzeugte Pferdestärken, Watts und Newtons sind im technischen Beiblatt jeder Maschine nachzulesen. Was bis letzten Dienstag aber niemand ermittelt hatte, war, ob alle Motoren die selbe Kraftmenge erzeugen.

SchülerInnen wären bei "Jugend forscht" schon in der Vorrunde durchgefallen, wenn sie ein solch doofes Projekt eingereicht hätten. Die Vielgestalt der Motoren unserer Welt macht es unglaublich, dass bloß die Masse von Maschinen ihre Kraft in stets gleicher Art beschränken soll. Anders gefragt: Warum sollte immer dieselbe Kraft-Menge herauskommen, wenn man die Leistung durch das Gewicht einer beliebigen Kraft erzeugenden Maschine teilt?

Als erste hätten die Jury-Mitglieder aus dem Fachbereich Biologie hämisch gegrinst. Der elegante Mechanismus, der unsere Muskeln antreibt, ist nämlich auch eine Maschine. Und weiß nicht jeder, dass die Lösungen des Lebens stets eleganter und effezienter sind als die aus den rauchenden und stinkenden Hallen der Schwer-Industrie?

Falsch gewusst. Wenn Muskeln sich zusammenziehen, geschieht auch das streng genommen durch kleinste Hebelchen. Der Weichmacher-Stoff ATP, der aus mitochondrialen Zell-Kraftwerken massenhaft angespült wird, erlaubt es so genannten Myosin-Köpfchen im Muskel, sich abzuknicken. Jeder Knick zieht die benachbarten Fasern um zehn Nanometer weiter.

Um die Hand von der Sonntagszeitung zum Nutella-Glas zu befördern, müssen sich also Millionen der molekularen Köpfchen abknicken. Später müssen sie sich auch wieder lösen. Gelingt das nicht, handelt es sich um einen Krampf oder die auch mit Gewalt nicht zu brechende Totenstarre. Letztere ist deswegen so hartnäckig, weil toten Muskeln der Nachschub am Energie-Lieferanten ATP fehlt. Ohne Energie liegen sie aber ebenso eisern lahm wie ein Förder-Rad ohne Sprit.

Ein wenig Rechnerei ergibt: Der molekulare Flutsch- und Knick-Vorgang im Muskel erzeugt stets höchstens sechzig Newton Kraft pro Kilogramm Gewebe. Dabei ist es egal, ob ein Frosch-Schenkel hüpft oder ein Kakerlaken-Bein angestrengt durchs Müsli wühlt. Diese Gleichheit ist verwunderlich, denn Insekten sind vollkommen anders konstruiert als Wirbeltiere. Während der Froschmuskel gemütlich an knöchernen, innen verlegten Kalk-Stangen befestigt ist, müssen die Sechsbeiner zusehen, wie sie ihre Kraft-Übertragung mit einem hauchdünnen Außen-Skelett aus Chitin, ohne jeden feste Innen-Stabiliserung, zustande bringen. Wegen dieser Bau-Unterschiede ist es erstaunlich, dass Mensch und Mücke dieselbe Kraft erzeugen.

Andererseits müssen sowohl Wirbellose als auch Wirbeltiere ihre Muskel-Energie in die Umwelt bringen, um sich fort zu bewegen. Liegt es vielleicht an der Ähnlichkeit der Kraft aufnehmenden Umgebung, dass der Output der Tier-Motoren gleich groß ist? Ein windschiefer Gedanke. Verfolgt man ihn aber weiter, fallen weitere Parallelen zwischen den verschiednen Lebens-Reichen auf. So entsteht in allen Muskeln Wärme. Diese Wärme muss entweichen, damit sich der Apparat nicht über die Maßen erhitzt und dabei schmilzt oder verklumpt. Hitze kann aber nur entweichen, wenn sie nicht von Gewebe-Bergen umhüllt ist, die sie im Inneren festhalten. Deshalb können Maschinen nicht beliebig groß, oder besser gesagt dick, werden. Sie halten dann zu viel Wärme zurück und zerstören sich so selbst. Dasselbe gilt für alle Lebewesen.

Die mangelnde Hitze-Abfuhr in solch unförmigen Systemen bewirkt auch eine frohe Nachricht für Menschen, die sich vor riesigen Gliedertieren fürchten würden. Solche Monster kann es wegen der Eigenheiten von Muskel-Motoren nicht geben. In der echten Welt würde Tarantula beim bewegten Angriff in Flammen aufgehen.

Die begrenzte Kraft-Produktion und Muskel-Bepackung ist auch der Grund dafür, dass es keine riesigen Frösche, Heuhüpfer oder Känguruhs gibt. Zwar wäre es für die Tiere von Vorteil, über Canyons oder Flüsse springen zu können. Die dafür benötigte Muskel-Masse wäre aber zu schwer, als dass sie sich noch in einen lebenstüchtigen Körper einplanen ließe. Unter dem Gewicht der Riesen-Muskeln würden nicht nur Knochen brechen und Sehnen reißen. Zur insgesamten Stützung wären auch elfanten-artige Stampfer nötig, die aus schnellen Jägern fußfaule Opfer machen würden.

Immerhin, das zeigt der Vergleich bis jetzt: Muskel ist Muskel. Könnte sich die komischerweise gleiche Kraft-Bilanz bei Wirbel- und Kerb-Tier nicht einfach daraus erklären, dass gleiche Kraft-Erzeuger eben auch gleiche Leistungs-Merkmale aufweisen? Meine Kollegen ließen sich nicht lumpen und schauten daher über den Teller-Rand und auf andere Motor-Typen, zunächst in den Werkstätten von Ferrari und Honda. Die dortigen Flitzer trugen Energie-Erzeuger unter der Haube, deren Kraft pro Kilogramm Motor um die sechzig Newton betrug. Nun wurde es den Biologen allerdings klamm um den Taschenrechner -- das war derselbe Wert, den sie auch für Muskeln errechnet hatten.

Auf der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen Kolben-Motoren und real Kreuchendem fiel ihnen auf, dass beide Motoren-Gruppen ihr eigenes Gewicht stützen oder zumindest stabilisieren müssen. Das ist nicht selbstverständlich: Schwimmenden Tieren wird ihr Eigen-Gewicht vom umgebenden Wasser abgenommen. Ein Blick unter Wasser sollte daher klären, ob die gemeinsame Leistungs-Grenze bei Ferrari und Fink nicht etwa durch stützkonstruktive Zwänge bedingt war. Doch auch hier kam Ernüchterung auf. Sowohl schnell schwimmende Fische wie die Regenbogen-Forelle Salmo gairdneri als auch der plötzlich blitzstartende Fluss-Krebs Orconectes virilis reihten sich sauber in die Sechzig-Newton-Reihe ein. Dasselbe gilt für Fledermäuse, Elektro-Motoren, Flugzeug-Turbinen und Raub-Katzen.

Die universale Kraft-Begrenzung aller Motoren erlaubt dem FAZ-Autor sogar die Vorhersage, dass die neue Generation von Passagier-Flugzeugen nicht größere Innen-Propeller haben wird, sondern schlichtweg mehr. Die größten Düsen finden sich bereits an den Meere überquerenden Boings 747 und 777. Mit vier- und siebentausend Kilogramm Gewicht sind deren Turbinen bereits an der Obergrenze dessen angelangt, was ein Flugzeug noch tragen kann, ohne dass Flügel oder Luftstrom abreißen. Doch damit wären wir schon wieder beim aus Gründen der Motor-Leistung zusammenbrechenden Spinnen-Monster. Handelt es sich also um eine gedankliche Endlos-Schleife oder haben meine Kollegen korrekt quergedacht und dabei etwas wirklich Schickes entdeckt?

Da die Motor-Forscher selbst nicht wussten, was hinter der mysteriösen Sechzig-Newton-Konstante steckt, stocherten sie vorsichtshalber weiter. Ein Anruf beim Massachusetts Institute for Technology, der wissenschaftlichen Technik-Zentrale in Cambridge (USA), erbrachte, dass dort Minitur-Maschinen in Millimeter-Maßstab gefertigt werden. Ein früher Antrag-Schreiber des MIT hatte vorhergesagt, dass die winzigen Maschinchen ein bis zu zehnfach besseres Verhältnis zwischen Leistung zu Gewicht des Gerätes erbringen würden. Wie sich auf Nachfrage herausstellte, stimmte das aber nicht. Der Kraft-Ertrag der angeblichen Super-Motörchen lag wieder nahe am magischen Wert -- diesmal fünfundfünfzig Newton pro Kiligramm. Nun packte Marden und Allen der Mut der Verzweifelten.

Sie meldeten sich bei Pratt & Whitney, einer Firma, die im Auftrag der U.S.-Regierung Antriebs-Teile für neue Kampf-Jets herstellt. Obwohl der Mantel der Verschwiegenheit dort aus tiefschwarzem Vorhangstoff gewebt ist, ließ ein Luftwaffen-Leutnant durchblicken, dass jüngst etwas seltsames vorgefallen war. Die Triebwerke des geplanten F119-Kriegsflugzeuges sollen -- ohne Turbo-Brenner -- eigentlich einen Schub von hundert Newton pro Kilo Motor erzeugen. Wenn das gelänge, wäre die zuvor auf der ganzen Erde angetroffene Kraft-Grenze von etwa sechzig Newton pro Kilo eben doch bloß auf veraltete Konstruktionsweisen zurückzuführen. Doch als die Ingenieure ihre perfekt ausgetüftelte Düse starteten, gab sie auch schon den Geist auf. Das Gebilde musste daraufhin verbessert und umgebaut werden. Dabei erhöhte sich auch sein Gewicht. Selbst der geheimste und teuerste Antrieb musste dem Gesetz der Sechzig gehorchen und deshalb zunehmen.

"Es könnte noch Jahrzehnte dauern, bis wir verstehen, wie die Kraft-Grenze mit den damit verbundenen Eigenheiten der Belastung von Motoren verknüpft ist", orakelten Marden und Allen zuletzt. "In der Zwischenzeit können wir uns nur wundern, dass die millionen Jahre dauernde Evolution von Lebewesen an dieselben Grenzen stößt wie ein paar Jahrzehnte Gefummel an Maschinen."

Auch mir gibt der Blick auf evolvierte Wesen Trost in dieser und anderen Fragen. Denn selbst wenn sich kein Mensch mehr darüber Gedanken machen kann, werden meine sechsbeinigen Freunde noch in rechtwinkligen Bahnen rasen, mit einem Salto unter der Decke landen oder aus dem Stand rückwärts in die Luft starten. Um dergleichen nachzubilden, müssten wir Menschen noch lernen, Nervensyme an Kunst-Motoren zu koppeln. Erst wenn das gelänge, hätten wir mit der Evolution erstmals ein Stückchen gleichgezogen. Bis es soweit ist, sollten wir mit frühlingshaftem Staunen auf die Stubenfliege schauen, die in ahnungslosloser Perfektion Kreise zieht, die unsereins nur träumen und messen kann. Immerhin: Ab sofort eint uns alle, Mensch, Tier und Maschine, eine unerklärliche Kraft -- pro Kilogramm mit sechzig Newton.

Der Autor (http://www.benecke.com/) arbeitet international als Kriminalbiologe. Über Ostern versucht er in einem Wald herauszufinden, ob Schmeißfliegen dort des nachts fliegen.

 

Kommentar von Sven Angermann

Quoting Sven Angermann <angermann@luftfahrtlogistik.de> Tue, 7 Apr 2009 21:18:05 +0200 [04/07/2009 21:18:05 CEST]:

Kommentar:

Beeindruckt durch den Artikel und das beschriebene, rätselhafte Gesetz von Kraft und Masse machte ich mich aus Interesse daran dies nachzurechnen. Durch die Angabe des Leistungsgewichtes in Newton pro Kilogramm bietet es sich an, dieses Gesetz mit Strahltriebwerken nachzurechnen, da bei diesen der Schub direkt in Newton angegeben wird und somit eine Umrechnung z.B. einer Wellenleistung (Angabe in PS oder kW) entfällt.

Zu meinem eigenen Erstaunen wurde dieses rätselhafte Gesetz durch diese Rechnungen gestützt. Nachfolgend sollen einige der Berechnungen beispielhaft aufgeführt sein. Berücksichtigt wurde bei der Berechnung jeweils der maximal zugelassene Schub (Zertifikation) sowie das entsprechende Trockengewicht (ohne Kraftstoff) des Triebwerks. Das Leistungsgewicht im realen Anwendungsfall dürfte demnach unter diesen Werten liegen.

- Rolls-Royce Trent 500 – 267 kN bei 4835 kg = 55 N/kg

- Rolls-Royce Trent 700 - 316 kN (Trent 772B) bei 4785 kg = 66 N/kg

- Rolls-Royce Trent 800 – 422,6 kN (Trent 895) bei 5942 kg = 71 N/kg

- Rolls-Royce Trent 900 – 356 kN bei 6436,5 kg = 55 N/kg

- Rolls-Royce Trent 1000 - 333 kN bei 5402 kg = 62 N/kg

- Rolls-Royce BR 700 – 76,2 kN bei 2100 kg = 36 N/kg

- Rolls-Royce BR 715 – 93,2 kN bei 2800 kg = 33 N/kg

- GE-Aviation GEnx-1B-70 – 310,45 Kn bei 5642 kg = 55 N/kg

- GE-Aviation GP7200 – 340 kN bei 6712 kg = 51 N/kg

- GE-Aviation GE90-94B – 97.300 lb (441,34 kN) bei 17400 lb (7982,5 kg) = 55 N/kg

Der Durchschnitt dieser Triebwerke liegt bei rund 54 N/kg und somit unter der Grenze von 60 N/kg. Überschritten wird der Grenzwert eigentlich nur durch die Triebwerke Trent 700 und 800.

Grundsätzlich scheint die Grenze eines Leistungsgewichtes von sechzig Newton pro Kilogramm für durch Kraftstoff angetriebene Kraftmaschinen zu gelten.

Wie verhält es sich jedoch mit Elektroantrieben? Für die Entwicklung einer Drohne benötigten wir rund 100 Newton Schubkraft, der dafür zur Anwendung gekommene Motor lag mit seinem Gewicht jedoch deutlich unter 1 kg. Somit berechnete ich für einige Elektromotoren das Leistungsgewicht. Betrachtet wurden hierfür moderne bürstenlose Außenläufer (brushless Motoren). Maßgeblich war für diese Berechnung der über einen Propeller erzeugte Schub in Newton. Zu dem Motorgewicht wurde zusätzlich das Gewicht des elektronischen Motorreglers und des Propellers addiert und zur Sicherheit aufgerundet. Die Akkus wurden in die Rechnung nicht einbezogen, da auch der Kraftstoff bei den Strahltriebwerken nicht berücksichtigt wurde. Nachfolgend sind einige Motoren und deren Leistungsgewicht aufgeführt.

- Robbe ROXXY BL-Outrunner 2827-34 (EPP1045) – 8,2 N bei 0,08 kg (57g + 12g + 6g) = 102,5 N/kg

- Plettenberg Xtra 30-10 Evo (CFK 22x12"RASA) – 100 N bei 0,82 kg (590g + 120g + 110g) = 122 N/kg

- Plettenberg Predator 30 (30x10 Menz S) – 300 N bei 2,5 kg (1,6kg + 0,32kg + 0,4kg) = 120 N/kg

Die Leistungsgewichte dieser Motoren liegen somit deutlich über 100 N/kg und überschreiten damit die beschriebene Sechzig-Newton-Grenze von 60 N/kg.

Trotz dieser überzeugten Darstellung der Biologen Marden und Allen scheint es also Kraftmaschinen mit einem Leistungsgewicht über dem magischen Grenzwert von sechzig Newton Kraft pro Kilogramm Kraftmaschine zu geben. Wer nun an welcher Stelle einem Irrtum erlegen ist vermag ich nach den mir vorliegenden Informationen nicht zu erkennen.

Eine kleine Unklarheit fiel mir noch auf, im Artikel wird von einem Triebwerk von Pratt & Whitney für das neue F119 Kriegsflugzeug gesprochen. Ich glaube korrekter Weise müsste das Triebwerk F119 und das Kriegsflugzeug F-22 Raptor heißen. Zumindest kenn ich keinen F119 Kampfjet, aber ein Pratt & Whitney F119 Triebwerk.