Das Geheimnis der Piraten

2004 03: Sueddeutsche Zeitung Das Geheimnis der Piraten
Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 10. März 2004, Seite 10

Neue Erkenntnisse über den 600 Jahre alten vermeintlichen Schädel von Klaus Störtebeker
Von: Mark Benecke

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Große Verbrecher bestehen nicht nur in Erzählungen fort. Oft wurden auch ihre Schädel oder Gesichter ausgestellt. Das berühmteste Ausstellungs-Stück war im Süden Deutschlands das Haupt von Mathias Kneißl. Als dieser angebliche Rächer der Armen 1901 gefasst wurde, rankte um ihn schon die Geschichte des charismatischen Partisanen. Bis zu einem Bomben-Treffer 1944 stand Kneißls Schädel in der öffentlichen Sammlung der Münchener Anatomie.

Das norddeutsche Gegenstück zum Räuber Kneißl ist der Pirat Klaus Störtebeker. Obwohl über ihn nur wenige Worte erhalten sind, erschufen die Hanseaten im 18. und 19. Jahrhundert eine romantische Räubergeschichte, in der sich mündliche Überlieferungen des Hafen-Milieus mit der passenden Dramaturgie vermengten. So soll der in der bürgerlichen Fantasie "hochragende, gewaltige und schreckliche" Mann, nachdem ihm im Jahr 1401 auf dem Grasbrook vom Henker der Kopf abgeschlagen wurde, angeblich noch an den aufgereihten Kameraden vorbeigeschwankt sein. "Man träumte den goldenen Jahren nach" , vermutet Ralf Wiechmann vom Museum für Hamburgische Geschichte. "Störtebeker wurde übertrieben stark dargestellt, um die schwindende Macht der Hanse-Behörden, die ihn geschnappt hatten, größer erscheinen zu lassen."

Bis heute sind im Hamburger Museum zwei Schädel von "Piraten, hingerichtet auf dem Grasbrook" ausgestellt. Trotz der musealen Zurückhaltung ist im Norden jeder überzeugt, dass einer der beiden das Haupt des fürchterlichen Klaus Störtebeker ist. Da Beweise fehlten, beschlossen Archäologe Wiechmann, der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel und der Anthropologe Günter Bräuer, genauer nachzuforschen. Ihr mit Röntgenkundlern, Anatomen und Historikern verstärktes Team stellte in der vergangenen Woche die Ergebnisse vor. Den Todes-Zeitpunkt konnte das C14-Labor der Universität Oxford anhand des im Schädel enthaltenen Kohlenstoff-Isotops auf die Zeit zwischen 1380 und 1450 eingrenzen. "Am Fundort, dem Grasbrook, gab es in dieser Zeitspanne aber nur drei Hinrichtungen mit insgesamt 90 Toten. Darunter waren mit Sicherheit auch Störtebeker und seine Männer", berichtet Wiechmann. "Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Schädel von Störtebeker stammt, lag damit bei 1:89."

Auffallend war auch, dass durch beide Schädel jeweils ein sehr langer Nagel von oben nach unten führte. Damit hatten die Henker einst die Köpfe nach der Hinrichtung auf einen Pflock am Hafen geschlagen, um Übeltäter abzuschrecken. Ungewöhnlich war, dass man bei Schädel "Grasbrook 1" mit einer sehr scharfen Klinge, womöglich einem Enter-Messer, sorgfältig eine Öffnung in die Kalotte gehämmert hatte. Der Aufstellnagel ließ sich nun einfach durch diese vorgeformte Öffnung schieben, ohne dass der Knochen beim Nageln zersplittern konnte. Offenbar sollte der abgetrennte Kopf nicht in Stücken am Pfahl verfaulen, sondern den lebenden Verbrechern möglichst lange und in Ganzheit mahnend entgegen starren. Da man sich solche Mühe mit normalen Piraten nicht machte, muss es sich um den Hauptmann der Halunken gehandelt haben. In Frage kommen hier nur zwei Kandidaten: Entweder Klaus Störtebeker oder der ein Jahr später hingerichtete Gödeke Michels. Beide waren als Piraten-Anführer so erfolgreich, dass sie die Hanse nicht nur finanziell, sondern auch in ihrem Ruf schädigten.

Auch Peter Pieper, forensischer Archäologe am Institut für Rechtsmedizin in Düsseldorf hebt die Sonderbehandlung von Schädel 1 hervor. Die Köpfe aller Banden-Mitglieder- allein aus Störtebekers Mannschaft waren es 73 Vitalienbrüder - auf einzelne Pfähle zu nageln, "hätte nicht nur einen erheblichen Materialaufwand an Holz und Eisen bedeutet, sondern auch eine sehr hohe Entlohnung des Henkers und seiner Knechte." Als die Schädel der Piraten im Jahr 1878 bei Erdarbeiten wieder auftauchten, waren sie rötlich-braun verfärbt. Obwohl eine Atommassen-Absorptions-Messung viel Eisen in den Knochen nachwies, ist das nicht der Grund für ihre dunkle Farbe. Vielmehr haben Humin-Säuren das diffuse Braun erzeugt. Die Boden-Säuren durchzogen die toten Piraten-Köpfe im Laufe der Jahrhunderte ebenso wie die im Dünnschliff erkennbaren Sprossungen von Pilz-Geflechten.

Zu Lebzeiten stand der Schädel seinem Besitzer hingegen gut zu Haupte: Ein Vorderzahn war ausgeschlagen, und auf der Stirn fanden sich die knöchernen Reste verheilter Hiebe. Schlechte Zähne hatte der bei seinem Tod erst 25 bis 35 Jahre alte Mann auch. Das lag aber nicht am bei Seefahrern verbreiteten Vitamin-Mangel, sondern, wie der Göttinger Anatom Michael Schultz ermittelte, an mangelnder Mundhygiene des Schreckens der Meere. Vieles spricht dafür, dass "Grasbrook 1" das Haupt von Störtebeker ist. Wie die Kammerei-Rechnungen der Hanse zeigen, war aber Störtebekers einziger Konkurrent Gödeke Michels ursprünglich wesentlich bekannter. Eine Unterscheidung der beiden wäre nur mittels genetischer Fingerabdrücke möglich. Doch dass sich zum DNS-Vergleich heute noch Verwandte der beiden Seeräuber finden, ist kaum vorstellbar. Stehen vielleicht sogar die Reste beider Piraten-Chefs nebeneinander im Museum? "Die Schädel haben ihre letzten Geheimnisse noch nicht preisgegeben", meint Archäologe Wiechmann, "aber die Diskussion ist neu belebt. Und das ist gut: Wissenschaft zum Anfassen."

Mit großem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.


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Vorwort von MB


Das ostdeutsche Obscurum

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