Ein Besuch auf der "Body Farm"

2002 SeroNews: Ein Besuch auf der "Body Farm"

Quelle: Sero News 7: 57-61 (2002)

Ein Besuch auf der "Body Farm"

Das Verrückteste vorweg: Die ForscherInnen, von denen im folgenden die Rede ist, arbeiten unter einem Baseball-Statium. Es gehört der Universitäts-Mannschaft und ist in der Saison an jedem Wochende mit 108.000 BesucherInnen (kein Witz, kein Tipp-Fehler) knallvoll gefüllt (Abb. 1, 2) [Anm. 21. Febr. 2017: Das Stadion hat 56.000 Plätze; die Zahl wurde mir also vor Ort wohl etwas übertrieben geschildert ;) -- Danke an Heinz Scholtz für den Hinweis].

VON MARK BENECKE

Traum-Ziel aller an Verwesung und Fäulnis interessierter ist die weltweit einmalige Anthropological Research Facility (ARF) der Universität Tennessee (UT).

Das Verrückteste vorweg: Die ForscherInnen, von denen im folgenden die Rede ist, arbeiten unter einem Baseball-Statium. Es gehört der Universitäts-Mannschaft und ist in der Saison an jedem Wochende mit 108.000 BesucherInnen (kein Witz, kein Tipp-Fehler) knallvoll gefüllt (Abb. 1, 2).

Für SeroNews-LeserInnen ist es vielleicht noch erstaunlicher, dass das Forschungs-Gelände dem Universitäts-Department für Anthropologie, nicht aber der Klinik angegliedert ist. Der Grund: Angloamerikanische Forensiker werden anders ausgebildet als mitteleuropäische RechtsmedizinerInnen. In den USA sind Obduzierende meist Fachärzte für Pathologie und erhalten eine Zusatz-Ausbildung in Rechtsmedizin. Deswegen heißen sie forensic pathologists, und durch die falsche übersetzung kommt es auch, dass RechtsmedizinerInnen in Deutschland oft als "Pathologen" angesprochen werden. Forensische Anthropologen in den USA sind aber weder obduzierende „pathologists“ noch Rechtsmediziner. Sie stammen aus naturwissenschaftlich geführten Knochen-Kellern (Abb. 3).

Die Haupt-Arbeitsgebiete der AnthropologInnen in Knoxville sind beispielsweise Ausgrabungen an Wohn-Stätten von indianischen Ur-Einwohnern oder die Vermessung knöcherner Unterschiede von heutigen weißen U.S.-Bürgern im Vergleich zu ihren europäischen Vorfahren. Nur ein kleines Trüppchen nimmt sich der Forensik an, und das auch nur, weil der Knochenkundler William Bass vor dreißig Jahren seine Leidenschaft für Kriminal-Fälle entdeckte. Eine ausrangierte Müll-Deponie der Uni-Klinik in Knoxville wurde sein Forschungs-Feld, auf dem er die Zersetzung menschlicher Leichen beobachten und auswerten konnte.

Bass ist mittlerweile nicht nur emeritiert, sondern auch weitgehend aus dem Instituts-Alltag verschwunden. Er erscheint aber noch auf der MitarbeiterInnen-Tafel im Instituts-Eingang (Bild 4). Sein Nachfolger heißt Murray Marks, und der weist stets schon im ersten Satz höflich darauf hin, dass die “Body Farm“ eine Idee des nun alten Herrn Bass sei.

Auf dem Gelände der Anthropological Research Facility traut sich keiner so recht, das Andenken von Bass in Form einiger schrulliger Artefakte endgültig wegzuräumen. Dazu zählen ein großes, von Hand gemaltes Schild mit Bass‘ Telefon-Nummer (des Büros und von zu Hause: falls es Beschwerden geben sollte, Abb. 5) sowie zwei typische U.S.-Brief-Kästen, die Bass "für Post" angebracht hatte. Einige Studentinnen haben die schwer erklärbaren Objekte aber immerhin auf die innere Seite des Zauns geräumt (Abb. 6).

Apropos Studentinnen. Schon seit geraumer Zeit muss der Autor dieser Zeilen Spott, Häme und Augenzwinkern erdulden, da seine Studentinnen allesamt in chromosomalem Doppel-X daherkommen. Auf der Body Farm gab es das große Aufatmen: Auch dort wird die von den Anthropologen ungeliebte Arbeit an und mit Faul-Leichen von ausschließlich weiblichem Nachwuchs betrieben (Abb. 7). Es kann also nicht am Autor, sondern nur am Sujet liegen, dass vor allem Studentinnen das Feld besiedeln.

Eine Ausnahme von der Frauen-Regel bildete William Rodriguez, der als einer der wenigen Männer an der Body Farm in nicht leitender Position gearbeitet hat. Das war in den 1980er Jahren, und mittlerweile hat er es vom Anthropologen und Leichen-Insekten-Forscher nicht nur zum Spezial-Agenten, sondern sogar zum U.S.-Leiter diverser knochenkundlicher UNO-Auslands-Einsätze gebracht. Seit seiner Veröffentlichung im Journal of Forensic Sciences in Sachen Entomologie an der “Body Farm” nicht mehr viel geschehen, abgesehen von Kollegen aus Australien, die ab und zu nach Tennessee fahren, um Insekten-Fälle nachzustellen. Selbstverständlich hat auch der Autor dieser Zeilen viele Stunden auf der Jagd nach seinen stillen Assistenten der Variation Knoxville verbracht und sich der Stille erfreut.

Da die Anthropologen nur freigefressene Knochen von der “Farm” holen (im Rahmen der so genannten Clean Up Party, die einmal im Jahr stattfindet), blieb die Glieder-Tier-Fauna nicht nur in der Forschung, sondern sogar im Rahmen der Ausbildung an der Universität Tennessee unbeachtet. Das ändert sich neuerdings, wenn einmal jährlich FBI-Spezial-Agenten anrücken. Letztere lernen auf der „Body Farm“ unter anderem das Ausheben von Gräbern. Sie müssen das meist mit bloßen Händen tun, um die in die Erde eingestreuten Spuren (Zigarettenkippen, kleine Täfelchen mit Sinnsprüchen usw.) nicht zu zerstören. Der Gräber-Kurs fand bis 1999 auch an der FBI-Academy in Quantico statt und beinhaltete auch eine sanfte Einführung in die forensische Entomologie. Dann kam eine Budget-Kürzung durch die U.S.-Regierung, und der Kurs musste an der FBI-Academy gestrichen werden. So kommt es, dass die Knoxviller Abteilung für Anthropologie nun der letzte Hort für Erde wälzende FBI-Beamte ist.

Schwer Staunen musste der Autor übrigens, als er eine der lockeren Leichen-Abdeckungen auf der "Body Farm" wegzog. Zwar summte ein sehr beachtlicher Fliegen-Schwarm auf; statt des erwarteten Fäulnis-Stadiums lag aber eine fast unberührte, scheinbar wächserne Leiche im Gras. Es handelte sich um einen „einbalsamierten“ (mit Konservierungs-Mittel gefüllten) Körper, der sehr langsam verweste und an dem auch eine alte Fäulnis-Prüfung scheiterte: Die Haare dieser Toten lassen sich nicht ausziehen (Abb. 8). Einbalsamierte Leichen gelangen ausnahmsweise auf die „Body Farm“, wenn entweder die Knochen der verstorbenen Person anthropologische Besonderheiten versprechen, oder wenn ein Bestatter in vorauseilendem Gehorsam die Leiche für den Transport konserviert hat. In Tennessee ist es meist warm und schwül, und so ist diese Maßnahme im Normalfall, das heißt bei normalen Bestattungen, angemessen. Den Knochen- und Insekten-Kundlern ist sie aber ein Grauen.

Zum Zeitpunkt meines Besuches im März 2002 war die Temperatur vor Ort derart hoch, dass die meisten Leichen in den Schatten gebracht oder mit Plastik abgedeckt waren, um deren austrocknen zu verhindern: Mumifizierte Leichen zersetzen sich ebenfalls langsamer als es für den Alltags-Betrieb wünschenswert ist. Andere Leichen sind auch in Erdgräbern, unter Betonplatten usw. anzutreffen, um systematische Vergleiche der Zersetzungs-Muster zu erreichen (Abb. 9).

Durch die unterschiedliche Lagerung der etwa 35 Leichen an verschiedensten Plätzen der Research Facility ist ein Besuch dort ein Zersetzungs-Crash-Kurs vom Feinsten. Auch von Gliedertieren verursachten Artefakte wie “Schrot-Schuss-Löcher”, postmortale Effekte wie Teil-Mumifizierungen, oder die experimentelle halbseitige Bedeckungen des Gesichtes einer Leiche sind mannigfaltig und mögliche, so dass sich gleich ein ganzes Buch darüber schreiben ließe. Einziger Nachteil: Die Körper liegen fast immer auf den Bauch gedreht, angeblich, "weil sie dann schneller verwesen": Anthropologen-Aberglaube (Abb. 10). Kein Aberglaube war es allerdings, dass just zur Zeit des Besuches des Autors die Verbrechens-Statistik auf dem Uni-Campus verüffentlicht wurde (Abb. 11). Beruhigend: Die Zahl der Morde hat abgenommen.

Zum Abschluss noch die Erklärung, warum die Bezeichnung "Body Farm" in diesem Artikel stets in Anführungs-Strichen steht. Der pro forma Verantwortliche für die Anthropological Research Facility ist Prof. Richard Jantz (der übrigens einst Humboldt-Stipendiat in Deutschland war). Ihm und seiner ebenfalls forschenden Gattin ist die Bezeichnung “Body Farm” unangenehm, da sie gegenüber den Körper-Spendern respektlos erscheinen kann. Dass diese Meinung kein Getue ist, zeigt sich unter anderem darin, dass die Leichen auf dem Forschungs-Gelände immer so gelagert werden, wie es sich die Körper-Spender vor ihrem Tod aus persönlichen bzw. religiösen Gründen gewünscht haben, etwa auf einem Holz-Gestell aufgebahrt oder in einer Leder-Schlinge hängend.

Die Bilder auf dieser und den vorigen Seiten sollen schlaglichtartig zeigen, wie es zur Zeit auf der Body Farm ausschaut. Wen Details interessieren, sollte im neuen Buch des Autors (Titel: Mord-Methoden) schmökern, das im September 2002 erscheint. Ein Exemplar wird sogleich verlost. Preis-Frage: Wieviele Eier legt eine der blau-metallisch schimmernden Schmeißfliege ungefähr auf einmal? Antworten an die SeroNews oder forensic at benecke dot com. Auflösung und Gewinner im kommenden Heft.

Mark Benecke (http://www.benecke.com/) arbeitet international als Kriminalbiologe. Er hat sowohl den Kurs zur Aushebung von Gräbern an der FBI-Academy als auch die "Body Farm" besucht.


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