2002 Sero News: Kommentar: Was ist Forensik?
Quelle: SeroNews Nr. 4/2002 (Vol. 7), S. 121-122
 
Kommentar: Was ist Forensik?
Von Mark Benecke
 
Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin  in Warnemünde, die unter der Leitung von Prof. Wegener einen  hocherfreulichen kriminalistischen Schwerpunkt hatte, habe ich in in  einem kurzen Vortrag folgende Definition des Faches Forensik benutzt.  („Forensisch“ heißt eigentlich vor Gericht/für das Gericht; diese  Bedeutung ist in Deutschland aber unerwünscht und spiegelt die weit  gefächerte Praxis auch nicht wieder. Als Anglizismus ist das Wort aber  über TV und Kino in seiner unrichtigen Bedeutung aber wieder nach Europa  gelangt. Ganz egal, hier der vereinheitlichende Vorschlag:
 
Forensik:
 
Mischung aus Kriminalistik, Rechtsmedizin und Naturwissenschaften
Von Herzen kommende Zusammenarbeit führt dabei zu Synergie
In Warnemünde habe ich einige Beispiele gezeigt, in denen derart  kombinierte Untersuchun-gen erfolgreich eingesetzt wurden, darunter die  Auswertung eines Blutspuren-Musters nach einer Doppel-Tötung. Wir  untersuchten dabei dieselben Blut-Spuren auf DNA (Naturwissenschaften),  Schleuder-Richtung (Kriminalistik) und Verbringung durch Fliegen  (forensische Entomologie). Die Leiche selbst wurde natürlich von  FachärztInnen für Rechtsmedizin beur-eilt.
 
Ein SeroNews-Leser und Rechtsmediziner merkte nach meinem Vortrag  an, dass dies nicht unbedingt ein Beispiel für die Zusammenarbeit der  verschiedenen Disziplinen gewesen sei. Das stimmt. Der auf dem Kongress  vorgestellte Fall zeigt eher, wie ein Einzelner viele Methoden  integriert anwendet.
 
Also schaute ich in meine diesjährigen Akten und suchte nach  einem möglichen Grund, warum Forensik als echte Zusammenarbeit ganz  verschiedener ForscherInnen in Deutschland nicht immer stattfindet,  selbst wenn es sich anböte.
 
Ergebnis: Im Jahr 2002 erreichten mich fast alle Beauftragungen  für forensische Untersuchungen von Spurenbildern von Polizei und  Staatsanwaltschaft. Nachstellungen von Fund-Orten wurden sogar  ausschließlich von diesen beiden Behörden gewünscht.  RechtsmedizinerInnen forderten nur in seltenen Fällen Untersuchungen an.
 
Interessant waren dabei die (mir oft hinter vorgehaltener Hand  zugetragenen) Begründungen, warum eine eigentlich sinnvolle und  erwünschte kriminalbiologische Zusammen-Arbeit nicht angestrebt wurde.
 
Grund 1: Unsicherheit über mögliche Kosten
 
Lösung: Die Erstberatung zur Frage der Machbarkeit und dem  Sinn/Unsinn einer möglichen kriminalbiologischen Untersuchung ist für  alle Forensiker kos-tenlos. -- Fragen kostet nichts, und alle  Folge-Kosten werden schon vorab be-sprochen und eingegrenzt.
 
Grund 2: „Der Gutachter ist in unserem Fachbereich nicht fest angestellt“
 
Lösung: Keine. Selbstverständlich ist ein interdisziplinär  arbeitender Gutachter niemals in allen Fachbereichen zugleich fest  angestellt.
 
Grund 3: Nicht erklärliche Irrtümer
 
Ein rechtsmedizinischer Ordinarius fragte mich kürzlich, ob ich  Herrn Benecke kenne. Er habe gehört, dass dieser Maden auf Lebern von  Verstorbenen züchte, was nicht in Ordnung sei.
 
Lösung: Information. Diese führe ich wie alle externen Gutachter  gerne und oft durch – auf allen Ebenen und in allen Ländern. Jede  Einladung wird gerne angenommen. Für Kontaktscheuere ist das Internet  ebenfalls eine Fundgrube -- auch für Fach-Artikel.
 
Grund 4: Konkurrenz
 
Der vielleicht verrückteste Grund von allen. „Die Zusammenarbeit  mit externen Gutachtern ist aus Gründen der Konkurrenz nicht erwünscht.“  Wie die ergebnisorientierte, sich ergänzende Zusammenarbeit  verschiedener Wissens-Richtungen eine Konkurrenz-Situation schaffen  kann, ist mir vollkommen unbegreiflich. Anregung, Befruchtung,  Aufgaben-Teilung, das alles lasse ich mir eingehen. Aber Konkurrenz –  nein.
 
Wie viel unbelasteter ist da oft die Zusammenarbeit mit der Polizei! Dort lautet die Frage schlicht:
 
„Ist die zusätzlich angewendete Methode hilfreich und bezahlbar?“
 
Basta. Auf dieser Grundlage – gepaart mit Respekt, Vertrauen und  voller Transparenz – hat noch jede gemeinsame Ermittlung zu einem für  alle Seiten nutzbringenden Ergebnis geführt. Wenn RechtsmedizinerInnen  noch öfter ins Boot steigen, wird aus dem Traumbegriff „Synergie“ bald  die schönste forensische Wirklichkeit.
 
Umgekehrt gibt es auch sehr erfreuliche Beispiele für eine  kollegiale, offene und gewinnbrin-gende Zusammenarbeit. Dazu zählten ein  Ober-Gutachten zur Leichen-Liegezeit (mit Prof. Rothschild, ReMed  Köln), Aussagen zur Vernachlässigung eines verstorbenen Kindes (mit Dr.  Lessig, ReMed Leipzig), eine exzellente Zusammenarbeit mit einem  rechtsmedizinischen Institut im Ruhrgebiet oder ein laufendes  Kombinations-Projekt mit Dr. Tsokos (ReMed Hamburg). Durch die von  Herzen kommende Zusammenarbeit hat sich in allen Fällen eine  unerwartete, hochinteressante Untersuchungs-Tiefe ergeben.
 
In einem Absatz: Alle externen Gutachter, die ich kenne, arbeiten  gerne mit ihren KollegIn-nen aus den Nachbar-Gebieten zusammen. Die  oben genannten Gründe 1 bis 4 machen das aber hin und wieder schwierig.  Wenn Sie also einen Gutachter treffen, der Ihnen wie ein Einzelkämpfer  vorkommt, dann muss das nicht daran liegen, dass dieser gerne einzeln  kämpft. Der Grund könnte schlicht eine rechtsmedizinische Verhärtung der  Herzen sein. Das beste Heilmittel dagegen heißt Zusammenarbeit. Auf  geht´s!
 
Mark Benecke (http://www.benecke.com/) arbeitet international als Kriminalbiologe.
