Quelle: Kriminalistik 58 (5/2004):322-324, hier gibt es den Artikel als .pdf
Es ist für alle Menschen schwierig, den Blick auf gesellschaftlich Randständiges zu lenken [3,4,5,11] und mit zwangsläufig oft uninformiertem Blick einzuordnen. Polizeiliche und juristische Beurteilungen werden in ungewöhnlichen Fällen daher manchmal aus einem Blickwinkel geführt, der den Gegebenheiten, Gewohnheiten und Regeln der betreffenden sozialen Gruppe nicht entspricht.
Ein Beispiel dafür haben wir im Jahr 1997 vorgestellt, als der Gebrauch von Ecstasy auf einen Schlag mit der Party-Subkultur des Techno erheblich zunahm. Mangels Einblick in die Denkweise der jungen Drogen-Benutzer fanden Aufklärung, Prävention und Bekämpfung des Ecstasy-Konsums anfangs in einer aus Sicht der Party-Kids absurden und inhaltlich unrichtigen Weise statt [2].
Sadomasochistische Handlungen
Eine Lebens-Gewohnheit, die in ihren tatsächlich extremen Ausprägungen ebenfalls als grundsätzlich falsch verstanden wird, ist die des Sadomasochismus (S/M). Obwohl schon seit Langem literarisch [9,14] und fachlich [15] beschrieben, wird diese Spielart der Sexualität oft noch nicht einmal in populärwissenschaftlichen Werken zur sexuellen Aufklärung besprochen [1].
Der Fall Meiwes/Brandes
Das Opfer des "Kannibalen von Rotenburg*" Bernd Brandes war Kunde ("Gast") in sadomasochistischen Studios. Zu den Fantasien, die in S/M-Rollen-Spielen umgesetzt werden, gehören Schlachtungen und Hinrichtungen. Bei dieser seltenen Ausprägung des S/M ist es üblich, dass die Kunden schriftlich, auf jeden Fall aber mündlich ihre Wünsche vorab im Studio einreichen.
Am betreffenden Tag werden diese Anweisungen noch einmal ausführlich und detailliert zwischen dem ausführenden ("aktiven", "dominanten") Part und dem Empfänger ("passiv", "Sub") abgeklärt. Die besprochenen Drehbücher sind bei Schlachtungen -- anders als bei vielen anderen S/M-Spielen -- oft hochpräzise. Das soll verhindern, dass eine scheinbar geringe Abweichung vom Skript den Kunden "aus der Szene fallen lässt", so dass er seelisch und körperlich keine Erfüllung findet.
Dazu ein Beispiel aus einem von einem heterosexuellen Kunden verfassten Skript:
Ich lege Dir meine Daumen auf beide Halsschlagadern und drücke langsam zu. Du versuchst Dich zu wehren, doch die Fesseln sitzen zu gut. Nach einigen Sekunden wirst Du ohnmächtig. Schlaff hängt der schöne halbnackte Frauenkörper vor mir am Flaschenzug. Es ist mir ein Hochgenuss, Dir jetzt auch noch den Slip und BH auszuziehen.
Und schon jagt der Stromstoß durch Deinen schönen Leib. Konsulvisch zuckst Du hoch, zitterst, tanzt wild auf dem Stuhl, wirfst ihn fast um, schlägst mit dem Kopf vor und zurück und reißt an den Fesseln. Diesmal halte ich den Strom fast 15 Sekunden aufrecht. Endlich schaltet der Strom ab. Du brichst zusammen.
Spucke läuft aus dem Mundwinkel über das Kinn (ruhig viel laufen lassen) und tropft auf die Brüste.
Die Umsetzung solcher Fantasien ist insofern ungefährlich, als die Fesselungen und Stromstöße meist nur angedeutet werden. Werden etwa bei "Schlachtungen" tatsächlich gefährliche Gegenstände ins Spiel gebracht, so tauscht der/die Handelnde diese im entscheidenden Moment gegen harmlose Gegenstände aus Plastik, stumpfem Metall usw. aus.
Ein durchaus sehr scharfes Ausbein-Messer wird beispielsweise -- für das Opfer unbemerkt -- durch ein Metall-Lineal ersetzt oder die Haut wird statt mit einem Messer mit einer stumpfen Nähnadel "aufgeschnitten", statt Blut fließt irgendeine warme, ggf. zähe Flüssigkeit usw..
Im Grunde handelt es sich bei kommerziell angebotenen S/M-Leistungen also um eine Mischung aus psychischer und körperlicher Manipulation, Schauspiel, Illusionskunst und Tricktechnik, die von meist aus eigener Erfahrung gespeisten Erlebnissen unterfüttert wird.
Im privaten Bereich finden sich hin und wieder aber auch gefährlichere Ausführungen der Szenen, bei denen beispielsweise Messer zur Erhöhung des Nerven-Kitzels bewusst nicht ausgetauscht werden und die Tötung zumindest technisch in den Bereich des Möglichen rückt (knife play) .
Um dennoch Ausschweifungen vorzubeugen, die gefährlich wären oder die Kraft des Empfängers übersteigen würden, gelten bei S/M-Aktivitäten grundsätzlich weltweit zwei ernst befolgte Regeln [7,10]:
1.
Alle Abläufe, egal wie eigentümlich sie Außenstehenden erscheinen, müssen bei geistiger und körperlicher Gesundheit in völligem Einvernehmen der TeilnehmerInnen stattfinden (safe, sane and consensual). Dabei spielt es keine Rolle, wie die Handlungen ansonsten gesellschaftliche bewertet werden. Es ist allen Beteiligten klar, dass sie sich in einer Randzone bewegen, die „normalen“ Menschen mit anderer Lebens-Geschichte und anderen Neigungen nicht vermittelbar ist.
2.
Es gibt ein Abbruch-Wort „safe word“; oftmals ganz simpel „Gnade“ oder „Stop“, dessen Aussprechen den sofortigen (!) Abbruch der Handlungen bewirkt. Selbst wenn ein Abbruch-Wort nicht bereinbart ist, werden S/M-erfahrene Personen niemals die Grenzen des für den Anderen Erträglichen überschreiten. Insbesondere Tötungs-Wünsche oder der Wunsch nach Genital-Amputationen werden ausnahmslos nicht wörtlich genommen, sondern als Teil des halb in der Fantasie stattfindenden Rollen-Spieles verstanden.
Gespielte „Schlachtungen“ versus Tötung auf Verlangen
Bei „Schlachtungs“-Szenen und „Hinrichtungen“ besteht im S/M-Umfeld das Problem, dass „Erbarmungslosigkeit“ ein Teil des vereinbarten Ablaufes ist. Anders als bei anderen S/M-Handlungen (Schläge, Peitschen, Einsperren usw.) möchte das Opfer „getötet“ werden. Es ist sprachlich kaum möglich, diese Szenerie zu durchbrechen, ohne dass das Opfer aus der Rolle fällt, denn dann würde die Grundlage der Szene zusammenbrechen.
Lebensrisiko für „Opfer“
Missversteht der aktiv Handelnde (mit oder ohne Absicht) die Anweisung des „Opfers“ zur „Tötung“ und vollzieht diese wirklich, so kann selbst ein erfahrener passiver S/M-Partner kein Zeichen zum Rücktritt geben – tödliche Verletzungen sind unwiderruflich.
Hinzu kommt eine aus Gewohnheit gespeiste Grauzone, die es endgültig unmöglich macht, einen echten von einem ins Spiel eingebauten Tötungs-Wunsch zu unterscheiden. Uns sind aus den USA Grenzfälle bekannt, in denen „Opfer“ im privaten Bereich mit größtem Ernst Genital-Amputation im Rahmen von S/M-Handlungen, so stimmten die Opfer dieser im Nachhinein und für uns verblüffend zu.
Setzt sich ein aktiv Handelnder hier also keine persönlichen Grenzen oder versucht stattdessen, den „Willen“ des „Opfers“ wörtlich auszulegen, so sind Fehl-Annahmen – zugunsten ebenso wie zu Ungunsten des Opfers – vorprogrammiert.
In diesem unlösbaren Widerspruch liegt das eigentliche Problem im Fall B. Das gilt besonders, wenn in kommenden Verhandlungen noch einmal die Fragen aufgeworfen werden sollte, ob Armin M. eine Tötung auf Verlangen durchgeführt hat beziehungsweise inwiefern Bernd B. in seine Tötung – unabhängig von der rechtlichen Wirksamkeit und psychischen Veränderungen als Grundlage seines Wunsches – eingewilligt hat.
Hervorzuheben ist, dass das Gericht in der heute vorliegenden Urteilsbegründung gegen Armin M. ausdrücklich annimmt, dass Bernd B. der Tötung tatsächlich zugestimmt hat.
Ungewöhnliche rechtliche Bewertung
Dennoch hat das Gericht eine Tötung auf Verlangen (StGB § 216) verneint. Um die ungewöhnliche rechtliche Bewertung zu verstehen, ist es sinnvoll, die zugrunde liegende Gedanken-Folge kriminalistisch in vier Schichten zu zerlegen:
1.
Rechtsmedizinisch wurde geprüft, ob dem noch lebenden Opfer tödliche Wunden zugefügt wurden, oder ob B. beim Zerschneiden bereits verstorben war. Dies sollte grundsätzlich entscheiden, ob es sich überhaupt um ein Tötungsdelikt handelt. Da B., wie auch auf dem Video-Band erkennbar ist, am Morgen des 10. März 2001 trotz der Einnahme von überdosierten Schlafmitteln noch lebte, als er die tödlichen Verletzungen erfuhr, liegt Tötungsdelikt vor.
2.
Das Opfer hatte zuvor eindeutig und über längere Zeit den Wunsch nach einer „Schlachtung“ glaubhaft vorgetragen. Darum sah das Gericht B. „formales Einverständnis“ in die Tötung als gegeben an. „B. wollte die Zähne spüren. Er sah dies als finalen Akt an; der Rest war ihm egal“, sagte Richter Volker Mütze dazu.
Bei einer Tötung auf Verlangen muss das „ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung“ (Gesetzestext) vorliegen. Dies wurde vom Gericht bejaht. Dem Publikum drängte sich nun die bange Frage auf, ob dadurch Straffreiheit entstünde.
Entgegen dieser bei Bürgern allgemein verbreiteten Meinung ist aber auch eine Tötung auf Verlangen mit Strafe bedroht. Der gesellschaftliche Grund dafür ist, dass es unmöglich bleiben soll, auf ein Menschenrecht – hier: das Leben – zu verzichten. Zwar ist die Strafandrohung gegenüber Mord und Totschlag gesenkt, liegt aber immer noch bei einem Freiheitsentzug zwischen sechs Monaten und fünf Jahren.
Das Gericht schloss im Fall M. eine Tötung auf Verlangen aber dennoch aus, weil M. die Wünsche und Motive des Opfers egal waren. Er habe mit der „Schlachtung“ nur eigensüchtig seine persönlichen Ziele verfolgt und nicht in erster Linie die Wünsche des Opfers umgesetzt. „Es war M.s sehnlichster Wunsch, jemanden zu schlachten und zu essen. Das war sein vorherrschender Grund“, wie Richter Mütze befand. Die eigentliche Tötung habe M. allerdings „nicht gern“, sondern nur als notwendige Voraussetzung zur eigentlichen „Schlachtung“ begangen.
3.
Nach Ausschluss einer Tötung auf Verlangen konnte es sich rechtlich nur noch um Mod oder Totschlag handeln. Am 31. Januar 2004 verkündete das Gericht die Entscheidung auf Totschlag, da keine Mord-Merkmale gegeben seien – weder Heimtücke noch grausame Begehungsart, Verdecken oder Ermöglichen einer anderen Straftat, Habgier, Befriedigung des Geschlechtstriebs oder „sonstige niedrige Beweggründe“.
Diese für Laien schwer nachvollziehbare Entscheidung begründete das Gericht damit, dass es sich um eine Tat handle, „deren Motive und Hintergründe sich nicht ohne weiteres erschließen“ und die rechtlich noch nie bewertet wurde. So habe M. beispielsweise nicht verächtlich gegen das Opfer gehandelt, da er „ja einen liebenswerten Menschen in sich aufnehmen wollte“. Ein Handeln auf niedrigster Stufe liege also nicht vor.
Reaktionen der Subkultur
Selbst in liberalen Veröffentlichungen wurde die Verneinung der Mord-Merkmale mit Kopfschütteln aufgenommen:
Sollte es kein niedriger Beweggrund sein, wenn man einen anderen tötet, um ihn hinterher zu zerlegen und sein Fleisch zu essen? Wenn es verwerflich ist, jemanden aus sexueller Lust zu töten, sollte es dann weniger verwerflich sein, ihn zum kulinarischen Genuss abzuschlachten? So wie Armin M., während er „in seine Tätigkeit versunken wie ein Kind im Sandkasten“ vor sich hinbrabbelte. „Der Nächste muss jünger sein und nicht so fett“, oder „Wenn zu zäh bist, mein Lieber, dann machen wir Frikadellen aus dir“, oder wie er von dem „Hochgenuss“ schwärmte, das lecker zubereitete Menschenfleisch mit einem guten Rotwein an festlich gedeckter Tafel zu genießen.“
Kriminalistische und soziale Bewertung
Bei den mordernen Fällen von Kannibalismus, die zwar selten, aber regelmäßig beobachtet werden, handelte es sich bislang immer um Mord. Die Taten fanden auch nicht im Umfeld von S/M und erst recht nicht in Einvernehmlichkeit statt.
Kriminalistisch und sozial unlösbare
Der Fall von Bernd B., der seiner Tötung auch nach Meinung des Gerichts eindeutig zugestimmt hat, ist hingegen kriminalistisch und sozial unlösbar. Dass die „Schlachtung“ eines Menschen gesellschaftlich unvertretbar ist, versteht sich von selbst.
Die juristisch im Januar 2004 auf sehr technische Weise und in einem Ausschluss-Verfahren vorgenommene Bewertung als Totschlag erzeugte in der Bevölkerung aber ebenfalls Ratlosigkeit.
Folgt man der Gedanken-Kette des Gerichtes, dann wäre die Tat im Grunde ebenso gut als Mord oder Tötung auf Verlangen bewertbar gewesen. Professionelle Anbieter von „Schlachtungen“ im S/M-Umfeld legten sich uns gegenüber aber darauf fest, dass es sich bei einer wirklich vollzogenen „Schlachtung“ im Umfeld von S/M grundsätzlich um Mord handeln müsse, da der Wille des „Opfers“ unmöglich zu erkennen sei. Grund dafür sei, dass „Schlachtungen“ und „Hinrichtungen“ als Ausnahme zu den sonstigen Gewohnheiten im S/M nicht nur eine völlige Passivierung des Opfers, sondern zudem eine durchgehend ernst und niemals erkennbar gebrochene Forderung nach Vollzug der Tötung als Spiel-Regel erforderten.
Tötung als Missverständnis
Da S/M-Handlungen in der Szene entweder als Brücke zur ansonsten verschütteten Sexualität oder als „Heraustreten aus sich selbst, um sich dadurch selbst zu erkennen“ gelten, bricht eine tatsächlich ausgeführte „Schlachtung“ immer die Szene-Regeln: Ein Toter kann weder über Sexualität verfügen noch aus sich heraustreten. Selbst Angehörige der Subkultur empfinden das Einverständnis von Bernd B. daher als in der täglichen Wirklichkeit ungültig. Da sprachlich und szenisch bei „Schlachtungen“ Spiel von Ernst nicht getrennt werden kann, steht eine reale Tötung also niemals zur Diskussion. Sie ist keine freundschaftliche Umsetzung des Wunsches des Opfers, sonder ein Irrtum.
Auch das Gericht hat solch ein Missverständnis angedeutet, als es befand, dass es sich im Fall B./M. um „eine Tat zweier psychisch kranker handelte, die sich gefunden haben, obwohl sie eigentlich verschiedene Vorstellungen hatten.“
Die wichtigste Folgerung daraus könnte also letztlich sein, dass unsere gesellschaftliche Wahrnehmung am Rand des Randes nicht mehr greift und daher auch bei ernst geforderten kannibalistischen „Schlachtungen“ weder vernünftige noch das Rechts-Empfinden befriedigende Bewertungen der Tat jemals gefunden werden können.