Quelle: Waldzeit, Januar 2017, Seiten 57 bis 61
VON MAXIMILIAN BAUER
Mark Benecke schätzt eines am meisten: Wahrheit. Der Gerichtsgutachter und Kriminalbiologe ist oftmals die letzte Instanz, wenn Fälle unlösbar scheinen oder seine Klienten Zweifel am Urteil haben. Dann kehren er und sein Team noch einmal zurück an den Tatort, gehen auf Spurensuche und durchforsten die Akten nach fehlenden Beweisen und unbemerkten Details.
Tätowierungen, ein Hang zur Gothic-Szene und auch Psychopathen ein offenes Ohr schenkend: Benecke schert sich nicht viel um Konvention: „Manchmal muss man mit den Tätern reden, um Spuren zu verstehen.“ Und der Serienmörder sei zumindest in einer Hinsicht ein Experte: wenn es um seine Delikte geht. So widmet sich Benecke als forensischer Entomologe (Entomologie: Insektenkunde) auch den Mordenden. „Einige sind natürlich auch notorische Lügner, aber andere sagen ab irgendeinem Punkt die Wahrheit. Ich probiere aus, bei wem sich ein Gespräch lohnt.“
Benecke studierte Biologie, Zoologie und Psychologie an der Universität zu Köln und promovierte über genetische Fingerabdrücke. Danach widmete er sich diversen Fortbildungen im Forensik-Bereich und der Gerichtsmedizin, unter anderem in den vereinigten Staaten an der FBI Academy und auf der Body Farm, einem Areal auf dem menschliche Körper unter wissenschaftlicher Beobachtung verwesen. In Deutschland ist er mit seinem Team selbstständig und untersucht komplexe Kriminalfälle, bei denen Unschuldige im Gefängnis sitzen, Suizide sich als Morde entlarven oder die Spuren nach Jahren noch auf ihre Entdeckung warten.
Tatort: Wald
„Der Wald ist deutlich anders als ein geschlossener Raum“, urteilt Benecke aus seiner Erfahrung über die Spurensuche in bewaldeten Arealen und Schauplätzen. Zunächst sei die große Differenz in den externen Faktoren liegend: Wind, Wetter, Wildfraß. „Wenn ein Fuchs jetzt eine Leiche angeht und an der Hose zerrt, kann sich leicht die Annahme einer Vergewaltigung einschleichen.“ Außerdem würde der Insektenspezialist im Wald zwei Mal darüber nachdenken, ob er die Handtasche am Boden samt Ameisen direkt aufhebt, oder nicht zuerst abfotografiert.
„Wald veränderst du auch schnell. Du knickst Äste ab, du verwischst Fußspuren am Boden, Insekten fallen herunter oder laufen weg.“ Abhängig von den Anwesenden, wie der Spurensicherung, den Gerichtsmedizinern und vielleicht auch Journalisten, wandelt sich der Tatort. „Hier sollte man genau kommunizieren und unbedingt mit einer Kamera den Originalzustand festhalten.“ Abgebrochenes Geäst oder umgewälzte Büsche werden eventuell zu Beweisen auserkoren. „Der Richter hat im Prozess „freie Beweiswürdigung“, er legt den Wert der Spuren fest und nicht ein Experte.“
Auch das Mikroklima würden oft unterschätzt: „Wenn da jetzt ein Madenteppich an der Leiche ist, dann reiben die Larven aneinander. Das erzeugt Wärme, und Wärme lässt deren Entwicklung schneller voranschreiten.“ Die, so möglicherweise falsch errechnete, Liegezeit der Leiche kann einen Verdächtigen mit fehlendem Alibi hinter Gitter bringen. „Um sowas zu wissen, braucht es experimentelle Erfahrung. Das musst du untersuchen, du musst in den Madenteppich reingreifen und die Wärme spüren, nur dann kannst du solche Situationen richtig beurteilen.
Hier gibt es keine Gleichungen, wie die eines Ingenieurs. Hier müssen Experimente her.“ Benecke führt verschiedenste Versuche durch: ob auf seinen forensischen Übungen oder dem Rest seiner Zeit. So zum Beispiel in einem Fall, bei dem Blut im Waldboden versickerte und beim Versuch der Spurensicherung mit einem Spaten immer wieder in der Stichstelle verschwand: er nutzte dieses Phänomen als Anlass, um auf verschiedenem Untergrund die Versickerungszeit von Blut zu ermitteln. In einem anderen Fall ging es um die Definition des Unterschieds zwischen Waldrand und dem „Inneren des Waldes“ für einen laufenden Prozess.
Hierzu machten Studierende und Benecke einen Versuch mit zwei Schweineleichen und dokumentierte die Unterschiede in Insektenbefall und dem Zersetzungsprozess der Körper, abhängig von der Platzierung im Wald und den resultierenden Temperatur-Unterschieden. Diese Experimentierlust und Neugierde zeichnet den Forensiker dabei in seinem Schaffen aus. „Blut auf Pflanzen wird irgendwann mit dem Regen abgewaschen, an trockenen Stellen kann es sich aber über Jahre halten.“ Exemplarisch berichtet der Spurenforscher begeistert von Spritzern auf der Unterseite von Blättern. Diese wären vor dem Regen geschützt, aber oft übersehen. „Die meisten Tötungen finden aber in Räumen statt. Wir Menschen sind einfach lieber in der Wohnung und häusliche Gewalt eskaliert in vielen Fällen dort.“ Manche Leichen würden später rausgeschafft und versteckt.
Zwischen Baumstämmen und Leichen
„Der Wald ist natürlich auch sehr mystifiziert durch unsere Kultur hier in Deutschland. Alle Bösewichte aus Märchen leben im Wald. Außerdem hat er etwas von Verdrängung, wo man die Dinge ablegt, die einem unangenehm sind.“ So träfe dieser Umstand nicht selten auf Delikte wie Kindesmissbrauch zu, bei denen die Täter einen Teil ihrer Persönlichkeit wegschieben, den sie eigentlich ablehnen: etwa eigene Missbrauchserfahrungen. Somit werden die Taten im Dickicht und „im Verborgenen“ getan, die Opfer anschließend versteckt. „Manche denken, tief im Wald würde die Leiche niemals gefunden werden.“
Doch gerade Pilzsucher seien hier häufig nicht etwa den Pfifferlingen oder Steinpilzen auf der Spur, sondern toten Körpern. Auch LKW-Fahrer, die ihre Notdurft verrichten oder Sex mit Prostituierten wollen, würden oft in die abgeschiedensten Teile des Waldes vordringen, in denen dann Kriminalschauplätze zutage kämen. „Diese Zufallsfunde durch Spaziergänger auf bestehenden Wanderwegen, die in den Medien kursieren, sind eher die Ausnahme.“ Benecke berichtet hier von verstorbenen Junkies, aber auch Suizid-Fällen im Freien wie folgendem: „Er wollte den Leuten keine Umstände machen, seine Wohnung hatte er vorher aufgeräumt.“
In einem anderen Fall tötete ein Jugendlicher seine Freundin im Streit und deponierte die Leiche im Bettkasten. Im Laufe der nächsten Stunden überkam ihn die Angst, es könnte stinken. So schaffte er den Körper weg, als seine Eltern das Haus verlassen hatten. Über 1100 Akten eigener Fälle hat Benecke in seinem Büro und weit mehr Fälle auch ohne Dokumentation im Laufe seiner Karriere bearbeitet. „Alles, was man sich vorstellen kann, ist passiert.“
Wahrheit im Abgrund
Die Delikte reichten hier von Mord über Entführungen, von Selbsttötungen über Lappalien. Für die meisten Menschen sind diese Themen furchtbar, unaussprechlich und, abgesehen von täglicher Nachrichten-Berichterstattung, Teil einer verdrängten Anderswelt. „Wir blenden den Tod gesellschaftlich fast schon schizophren aus.“ Benecke findet diesen Umgang mit etwas Allgegenwärtigem seltsam. „Wir lieben unsere Haustiere, und essen andere Tiere, die unter scheiß Bedingungen vor sich hin siechen.“ Er spricht hier von einer geradezu krankhaften Ausgrenzung der Wirklichkeit.
„Der Tod und das Verfaulen sind völlig natürliche Dinge. Das Pendant zum Blick in den Sternenhimmel ist auch der bewusste Blick auf die Rückkehr in den natürlichen Kreislauf: die Verwesung. Es ist etwas Wunderschönes.“ Der Forensiker bezeichnet den Prozess fasziniert als natürlichste Art des Recycling. „Alles Eisen in uns entstand nicht auf Erden. Es wird ständig weitergegeben und wiederverwendet.“ Die Fäulnis ist für Benecke ein „fantastischer, ökologischer Prozess“.
Jene Unwissenheit und mangelnde Bewusstwerdung über Themen wie Tod und Sexualität sind für ihn außerdem oft Grund für viele Delikte und Fälle. „Ich habe nicht nur mit Spuren zu tun, ich lerne Angehörige kennen, Opfer und auch Täter.“ Die Verbrechen seien hierbei häufig mit entsprechender Prävention vermeidbar, so resümiert Benecke. Der Mann, der beruflich meist mit den Folgen extremer Gewalt zu tun hat, vertritt eine simple Haltung diesbezüglich: „Leben und leben lassen. Man könnte kriminelle Tötungen verhindern, indem man den Menschen Struktur bietet, allgemeine Bildung mit kultureller Erfahrung kombiniert.
Früh psychische Störungen und aggressives Verhalten zu therapieren wäre ein Anfang.“ Zum Fall der gefundenen Leiche von Peggy kommentiert er: „Interessant, dass es uns allen nicht auffiel, dass Böhnhardt ein Serienmörder war. Seine Art zu morden war extrem routiniert: einfach in den Laden gehen und schießen.“ Sexuelle Grundmotive seien bei manchen Tätern ausschlaggebend, hier aber eher Hass und Größenwahn, bei dem die ultimative Form der Dominanz die Tötung des anderen Menschen darstellt.
Oftmals schmerzt die Wahrheit allerdings auch, die Benecke so leidenschaftlich sucht. Viele Angehörige kämen zu ihm beispielsweise wegen des Suizids eines geliebten Menschen, den sie nicht als solchen wahrhaben können. Eher gehen sie dem Mordverdacht nach und engagieren private Gutachter oder Detektive. Benecke stellt dann bei den Ermittlungen nüchtern fest, dass der oder die Betroffene eben doch hochgradig depressiv war: Genau am Wochenende des Suizids wird ein vermeintlicher „Urlaub“ angekündigt, sodass auch niemand rechtzeitig zur Hilfe kommen kann.
„Mich interessiert die Wahrheit, und nicht die Motive oder Hintergründe.“ Benecke vermeide es zu werten oder in Schubladen zu kategorisieren. „Annahmen und Vorurteile können Ermittlungen häufig in eine bestimmte Richtung drängen. Wenn man nur nach den Beweisen für eigene Vermutungen sucht, dann läuft man eventuell an der tatsächlichen Faktenlage vorbei.“ Stattdessen habe er sich mit seinem Team der möglichst objektiven Wahrheitssuche verschrieben: „Ich bin emotional nicht in meine Arbeit verwickelt. Ich trenne da strikt. Ich suche Fakten, unabhängig von Gerechtigkeit oder jeglicher Art von Wertung.“
Mit großem Dank an Maximilian Bauer und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.