Neon: Eine Art von Wellness

Quelle: Neon, Januar 2014, Seiten 162 - 164

Eine Art von Wellness


Interview: Tobias Moorstedt

Der Kriminalbiologe Mark Benecke untersucht weltweit Verbrechen. Dabei hat er auch herausgefunden, warum uns Krimis so faszinieren.

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Mark Benecke sieht aus, als wäre er im Brainstorming-Meeting eines Krimiverlages geboren worden. Der Kriminalbiologe trägt einen langen schwarzen Ledermantel, schwere Bikerstiefel und viel Metall im Gesicht. Er hat eine Glatze, die Arme sind mit wilden Farben und Formen bedeckt, und an seinem Gürtel hängen eine Grubenlampe, ein Kompass, ein Taschenmesser und ein absurd großer Schlüsselbund. Bevor Benecke den Raum betritt, hört man ein gefährliches, metallisches Klirren. Solche Figuren tauchen in vielen Krimis auf: der geniale Freak, der Außenseiter, der den Mainstream durchschaut.

Mark Benecke ist echt, er hat auf der FBI Academy und der legendären »Body Farm« studiert, einer Universität, die sich auf die Analyse verwesender Körper spezialisiert hat. Ergilt als einer der führenden Kriminalbiologen der Welt. Benecke berät Gerichte und Polizeibehörden, Anwälte und Opfer. 2011 hat er das Buch »Aus der Dunkelkammer des Bösen« herausgebracht, in dem er berühmte Kriminalfälle analysiert. In seiner Freizeit veranstaltet er Vampir-Rollenspiele und hört Gothic. Kann dieser Mann, der Krimiklischee und Verbrechensexperte zugleich ist, erklären, warum unsere Gesellschaft süchtig ist nach »Tatort«, Schwedenkrimis und amerikanischen Cops?


Herr Benecke, was machen Sie normalerweise an einem Sonntag um 20.15 Uhr?
MB: Keine Ahnung. Ich bin oft auf Konzerten, Vorträgen und leider auch ziemlich häufig im Labor. Warum fragen Sie?


Da beginnt der »Tatort«, und halb Deutschland guckt den Mord zum Sonntag.
MB: Der »Tatort« ist aber nun mal absoluter Teil der bundesdeutschen Kultur. Eine Gesellschaft muss sich auf ein paar Dinge einigen. Die Franzosen schwören darauf, dass ein anständiges Essen drei Stunden dauern muss. Und für die Deutschen fühlt sich eine Woche ohne»Tatort« leer an. Es ist eine Art von Wellness.


Aber alle schimpfen doch nur über den »Tatort« - auf Twitter und in der Kantine.
MB: Die Leute schimpfen auch über das Wetter und ihren Fußballverein. Nur was uns wirklich wichtig ist, bringt uns aus der Fassung.


Trotzdem: In den öffentlich-rechtlichen Sendern laufen pro Woche mehr als sechzig Krimis. Auch die Bestsellerliste wird von dem Genre dominiert. Warum?
MB: Der Konsum von Krimis wie »Tatort«, »Der Alte« oder »Derrick« ist ein bürgerliches, spießiges Hobby. Immer geht es um die Frage: Wer ist der Täter? Wer hat Schuld? Dabei spielt es keine Rolle, ob die Leute mit Bier und Chips auf der Couch im Ruhrgebiet hocken oder mit einem nostalgisch-ironischen Grinsen beim Public Viewing in einer Kreuzköllner Kneipe. Solche Krimis sind ein hochgradig systemtragendes Genre und versichern uns: Da draußen existiert das Böse, aber da sind auch Leute, die für Recht und Ordnung sorgen.


Auch in Ihren Büchern werden reale Kriminalfälle geschildert, es geht unter anderem um CharIes Manson und Anders Breivik. Hätten sich solche Bücher auch früher gut verkauft?
MB: Krimis sprechen ein menschliches Grundbedürfnis an. In China wurde ein Text aus dem frühen 13. Jahrhundert gefunden, der die erste uns bekannte kriminalbiologische Ermittlung der Geschichte schildert: In einem Dorf wurde ein Bauer mit einer Sichel umgebracht. Der zuständige Ermittier lässt alle Bauern ihre Sicheln auf den Dorfplatz legen und wartet, dass die Natur ihre Arbeit tut. Auf einer Sichel sammeln sich bald die Fliegen, die Blutreste riechen, die das menschliche Auge nicht sieht: Der Mörder ist überführt. Menschen lieben Rätsel, ganz gleich, ob es um Sudoku oder Verbrecherjagd geht.

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Kurt Tucholsky hat gesagt: »Jede Zeit hat die Räuberromane, die ihr angemessen sind.« Was sagt es über unsere Zeit aus, dass ausgerechnet die Branche der Kriminalbiologen durch Serien wie »CSI« das Genre bestimmt?
MB: Eigentlich ist das ja keine neue Entwicklung. Sherlock Holmes zum Beispiel war Chemiker, der den Gangstern durch die Analyse von Haaren, Schuhabdrücken und Asche auf die Spur kam. »Watson, unterschätzen Sie nie die Aussagekraft von Fingernägeln« lautete das Motto. Die Forensikthriller sind nur ein zeitgemäßes Update dieses Motivs. Im Kriminallabor kann man ja auch krasse Sachen zeigen: Die Kamera zoomt bei der Obduktion förmlich in den Körper hinein. Die Wissenschaftler führen mit Touchscreens, Pipetten und anderen piepsenden Hightechgeräten eine wilde, leuchtende Choreografie auf. Mir gefällt das, weil es vermittelt, dass man mit scheinbar nerdigen Dingen wie Mathe, Physik oder Computern faszinierende Ergebnisse erzielen kann.

Ist die Darstellung Ihrer Arbeit in diesen Serien denn realistisch? Dauert es wirklich nicht länger, die DNA eines Menschen zu analysieren, als ein Fax zu verschicken?

MB: Fiktion ist nicht der Realität verpflichtet. Wenn ich abends von der Arbeit komme, will ich auch keine Dokumentation Ihres Arbeitsprozesses sehen, sondern ein gut gemachtes Magazin lesen. Der technisch-bürokratische Aufwand, den wir in Wirklichkeit bei einzelnen Kriminalfällen betreiben, ist so komplex und dröge, dass man ihn ohne Verdichtung kaum spannend erzählen kann. Ich würde mir allerdings schon wünschen, dass im deutschen Fernsehen mal jemand den Mut hat, nicht immer einen Multitasking-Kommissar in den Mittelpunkt zu stellen, sondern den ganzen Apparat abzubilden: Ermittler, Forensiker, Hubschrauberpiloten - wer redet wann mit wem? Da spielen sich Dramen ab. So eine Krimiserie mit zwanzig mehr oder weniger gleichberechtigten Protagonisten fände ich toll. Arbeitstitel: »Das Präsidium«.


Mir fällt auf, dass die »Tatort«-Killer meist aus Unterschicht oder Chefetage stammen.
MB: Ja, die Mittelschicht steht am Spielfeldrand und wundert sich über Exzesse der Extreme. Die Zielgruppe will nicht als das Böse auftauchen. Das ist auch der Grund, warum wir so viele extreme Krimis haben, in denen der Täter fast ein Monster ist. Wenn ich in meinen Vorlesungen anspreche, dass Serienkiller - abgesehen davon, dass sie ihren abartigen Fantasien auch Taten folgen lassen - sehr viel mit uns Normalos gemein haben, entsteht sofort Unruhe im Saal. Der Krimikonsument denkt: Der Täter darf mir auf keinen Fall ähnlich sein.


Von welchen Gemeinsamkeiten sprechen Sie?
MB: Die Grundbedürfnisse sind in allen Menschen angelegt: Geld, Sex, Liebe. Der Bürger setzt auf das Sparbuch, der Räuber auf die Pistole. Die Handlungen unterscheiden sich, das auslösende Bedürfnis ist dasselbe. Die meisten Menschen denken, zwischen sozialverträglichem und asozialem Verhalten bestünde eine dicke Grenze. Dabei ist der Abgrund in jedem Menschen angelegt.


Muss ein Krimi das nicht auch beschreiben?
MB: Die Frage ist, ob sich diese Geschichte gut verkaufen würde. Das glaube ich nicht. Die Menschen sind nicht stark genug, um zu sehen, auf welchem schlittrigen Schieferabhang wir uns alle befinden. Wie schnell genetische, biografische oder soziale Faktoren, wie etwa eine Kindheit ohne Sicherheit und Liebe, uns ins Rutschen bringen können.


Die Vorträge, in der Sie Ihre Arbeit beschreiben, werden oft von hunderten Menschen besucht. Warum?
MB: Ich denke nicht, dass viele Psychos unter meinen Zuschauern sind, die hier ihre Lust auf Hardcore und Blut befriedigen. In unserer Gesellschaft haben wir den Tod und den Verwesungsprozess unsichtbar gemacht. Die Leute wollen mehr über die Erscheinungen des Todes wissen: Wie sieht eine Leiche nach zwanzig Tagen aus? Stinkt sie? Ist sie giftig? Ich finde diese Neugier ganz gesund, weil die Menschen was über das Leben lernen, oder besser: dessen Ende. Der Tod ist nicht giftig, aber es stinkt sehr. Ich hatte nie Berührungsängste. Dafür habe ich Angst vor Achterbahnen.


Gibt es Szenen aus Ihrem Arbeitsalltag, die Sie lieber nicht in der Öffentlichkeit zeigen?
MB: Ich habe mal ein sehr merkwürdiges Sexualdelikt untersucht, bei dem das Opfer schwere Pfählungsverletzungen davongetragen hat. Diese Bilder haben die Zuschauer sehr verstört. Mir ist wichtig, dass mein Publikum nicht nur seine Schaulust befriedigt, sondern auch etwas mitnimmt. Die verlassen den Vortrag und haben nicht gemerkt, dass ich ihnen eine chemische Formel beigebracht habe. Das sollten gute Krimis leisten: durch Entertainment den Horizont der Menschen erweitern.

Mit herzlichem Dank an Tobias Moorstedt und die Neon-Redaktion für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.