Quelle: Mitteilungen der DGRM (Deutsche Gesellschaft für Rechtsmedizin), in: Rechtsmedizin 23:528, Ausgabe 06/2013
Bremen, 05.-06.09.2013
VON K. BAUMJOHANN & M. BENECKE
[Hier gibt's den Bericht im Original-Layout]
Zum elften Mal trafen sich in Bremen an der Bearbeitung schwerer Delikte beteiligte PolizistInnen und ForensikerInnen zum interdisziplinären Austausch am Beispiel eines einzigen, aktuellen und konkreten Kriminalfalles.
Im November 2010 waren die Leichen zweier Kinder, eines 14jährigen Mädchens und eines 13jährigen Jungens, in einem Waldstück gefunden worden. Bereits 32 Stunden nach den Leichenfunden wurde der 26jährige drogenund alkoholabhängige Täter festgenommen, nachdem er auf Facebook über die von ihm so genannten „Schlachtungen“ berichtet und angekündigt hatte, nun täglich weitere Morde zu begehen. Einem der Ermittler war dieses Posting aufgefallen.
Der Täter legte dann ein recht umfassendes Geständnis ab. Seine Motive bleiben bei scharfem Hinsehen dennoch teils unklar, beispielsweise weil er das zweite Opfer (einen Jungen) für ein Mädchen gehalten hatte, dennoch aber aus der Fundsituation, besonders der Blutverteilung auf der Leiche ableitbar umfangreichere Manipulationen vorgenommen hatte. Dies, obwohl der Täter deutlich seine Heterosexualität betonte und sich stattdessen auf angeblichen Kannibalismus und Lust am Bluttrinken berief. Er wurde zu 15 Jahren Haft, einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt.
Im Gegensatz zu in den vergangenen Jahren vorgestellten Fällen lag der Tagungsschwerpunkt diesmal auf psychologischen und psychiatrischen Arbeitsweisen; spurentechnische Untersuchungen standen eher im Hintergrund.
Soko-Leiter EKHK Hartmut Reinecke sowie KD Andreas Borchert betonten nicht nur die emotionale Belastung, die die Morde mit kannibalistischen Aspekten für die beteiligten Ermittler darstellten, sondern auch die hohe Arbeitsbereitschaft der KollegInnen und die logistischen Anforderungen, mit denen diese Soko konfrontiert war. Interessant war unter anderem die Entscheidung, im ersten Angriff keinen Rechtsmediziner vor Ort zu bitten.
Kritik an der Polizeiarbeit sowie die Besonderheiten des Falles führten zu einer Journalistenschwemme vor Ort, aber auch zu Nachfragen innerhalb der Behörde, so dass starker Druck auf den Ermittlern lastete.
Der zuständige Richter, R. Günther, berichtete über die Gefühle, die der Fall in ihm hervorrief und gab den anwesenden Kriminalbeamten Tipps zum Verhalten vor Gericht, insbesondere während Befragungen der Polizei durch die Verteidigung: Man solle unter anderem erstens nur Fragen beantworten und keine Statements oder Bewertungen liefern, zweitens wegen des Beweiswertes möglichst immer eigenhändige eidesstattliche Niederschriften von Zeugen aufnehmen und sich drittens niemals vom Verteidiger unterbrechen lassen, der dazu kein Recht habe.
Die Operative Fallanalyse stellte ihre Arbeit hinsichtlich der Tathergangsanalyse sowie der Motivlage dar. Dabei arbeitet die OFA intensiv mit der Leiterin der Zentralstelle für Gewaltdelikte des Landeskriminalamtes (LKA) Niedersachsen, Sybille Dörflinger, zusammen. Diese zieht ihre psychologischen Erkenntnisse aus sekundären Informationen wie beispielsweise den Ergebnissen der Spurensicherung, arbeitet nicht direkt mit dem Täter, erarbeitet aber dessen mögliche Motive.Während ihrer Arbeit im Team der OFA leitet sie aus Spaltungs und Abwehrprozessen der Gruppe psychodynamische Elemente des Täters ab, die ihrer Darstellung nach sozusagen auf die Bearbeiter überspringen und dort seelische Reaktionen auslösen. Einigen Aussagen des Mörders, die er in einem eindrucksvollen Brief zum Tatgeschehen macht, steht sie kritisch gegenüber, da der Täter ihrer Ansicht nach stark phantasiegeleitet war.
Psychiater Georg Stolpmann explorierte den Täter intensiv und betonte, dass auch Kranke zur Verantwortung gezogen werden müssen, da Verantwortung ein Teil der Menschenwürde sei. Die ausgeprägten kombinierten Persönlichkeitsstörungen mit einer multiplen Störung der Sexualpräferenz des Täters Jan O. seien das Ergebnis sowohl von Erkrankung als auch des Erziehungsverhaltens der Mutter und mündeten unter anderem im dissozialen Verhaltens ihres Sohnes.
Staatsanwalt Müller schilderte die verhältnismäßig gute Zusammenarbeit mit dem Verteidiger und rief unbeabsichtigt eine lebhafte Diskussion um die notwendige, aber nicht immer bestehende Rufbereitschaft der Staatsanwaltschaft hervor.
Losgelöst von der Soko “Rechen” (die Inliner eines Opfers waren nahe eines Rechens gefunden worden) und aufgrund des großen Interesses des Vorjahres an digitalen Tatorten referierte Werner Dohr vom LKA NRW über die Verwendung von digitalen Informationen als Datenquelle kriminalistischer Ermittlungen.
Die Tagung zeigte erneut eindrucksvoll, dass das Engagement von Prof. Birkholz etwas sonst kaum mögliches erlaubt: Den offenen Austausch über die Fachgrenzen hinweg, einschließlich ehrlicher Aussprache darüber, was verbessert werden kann und was in der Verantwortung des einzelnen Sachbearbeiters bleiben muss, soll und kann.
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