Quelle: Mittelbayerische Sonntagszeitung vom 29. Januar 2017, Thema der Woche, Seite 2
Maden als letzte Helfer
VON SUSANNE WOLF
Kriminalbeamte, Gerichtsmediziner und Co. verzweifeln manchmal fast an einem Fall. Sie kommen bei ihren Ermittlungen nicht mehr weiter. Das letzte Puzzleteil scheint irgendwie immer zu fehlen. Doch selbst die modernsten technischen Möglichkeiten sind begrenzt. Und hier kommen Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke und seine „tierischen Mitarbeiter“ ins Spiel, denn: Benecke helfen Maden und andere Insekten bei der Aufklärung von Verbrechen und werden nicht – wie bis gestern täglich im „Dschungelcamp“ zu sehen war – von Promis verspeist.
Medical Detectives“, „Die Anwälte der Toten“, „Autopsie“: Mittlerweile täglich werden Serien im Fernsehen ausgestrahlt, die reale Verbrechen behandeln. Diese Präsenz in den Medien zeigt, dass das Interesse der Menschen an Kriminalfällen immens hoch ist. In diesen Formaten werden Verbrechen sowie deren Aufklärung geschildert. Die Serien zeigen aber auch, dass es oft gar nicht so einfach ist, dem Täter auf die Schliche zu kommen oder den genauen Todeszeitpunkt des Opfers zu bestimmen. Hier ist die akribische Arbeit der Kriminalpolizei gefragt. Doch ab und an kommen Kriminalbeamte, Gerichtsmediziner und Co. bei ihren Ermittlungen trotzdem ins Stocken, beziehungsweise an die Grenzen ihrer menschlichen und der technischen Möglichkeiten – und das trotz klassischer rechtsmedizinischer Mittel wie DNA-Analyse und Fingerspurenauswertung.
Genaue Bestimmung des Liege- und Todeszeitpunkts durch Insekten
Was erschwert also mit all den Möglichkeiten, die uns heute zur Verfügung stehen, die Aufklärung eines Verbrechens? Die Antwort ist simpel: das Leben und die Zersetzungsprozesse nach dem Ableben eines Menschen. Die Leichen sind oft in einem fortgeschrittenen Zustand der Verwesung, wurden vielleicht an einem Ort abgelegt, der den Verwesungsprozess beschleunigt, oder liegen schon Jahre unter einem Erdhaufen, bevor sie aufgefunden werden – daher können oft weder Fingerabdrücke genommen noch andere Beweismittel gesichert werden. Wie soll man also jetzt den genauen Todeszeitpunkt feststellen, um das Geschehen eingrenzen und dem Täter auf die Spur kommen zu können?
Hier kommen Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke und seine „tierischen Mitarbeiter“ ins Spiel: Anhand der Insekten, die einen Leichnam besiedeln, und deren verschiedener Entwicklungsstadien kann Benecke den Liegezeitpunkt und damit den Todeszeit- punkt meist auf ein paar Stunden genau eingrenzen. Wird er zum Fundort einer Leiche beziehungsweise zum Tatort eines möglichen Gewaltverbrechens gerufen, macht sich der Biologe erst einen Überblick von der Leiche und dem Auffindeort. „Ich habe einen ganz anderen Blick auf den Tatort als andere Ermittler“, erklärt Dr. Benecke.
Dann ist es wichtig, die an der Leiche und dem Fundort aufgefundenen Insekten weiterzuzüchten oder zu asservieren, das heißt, sie in einen Becher mit einer Tötungs- und Lagerungsflüssigkeit zu geben, damit der Kriminalbiologe danach in seinem Labor eine insektenkundliche Auswertung vornehmen kann. Im Labor angekommen, gehen die Untersuchungen los: Um nun die Liege- und Tatzeit genauer eingrenzen zu können, misst Dr. Benecke die Körperlänge und stellt das Alter der verschiedenen Insekten fest, er untersucht die Mundwerkzeuge und bestimmt die Gattung. „Wichtig ist hier, dass man die Temperatur am Fundort berücksichtigt“, erklärt der Kriminalbiologe.
Wenn er fertig ist mit seinen Untersuchungen, übermittelt er seine Ergebnisse an die zuständigen Beamten der Kriminalpolizei. Die Arbeit von Dr. Benecke hilft den Ermittlern immens weiter, um das Verbrechen aufzuklären. Mit der Angabe und Eingrenzung des Todeszeitpunkts und auch des Ortes der Tat können jetzt nämlich die Alibis der möglichen Tatverdächtigen überprüft werden. Im Fall einer pflegebedürftigen Frau aus Köln, die tot aufgefunden worden war, ist Dr. Benecke zu dem Schluss gekommen, dass die Pflegerin sie vernachlässigt hatte. Der Beweis dafür? Tote Stallfliegen. „Die Fliegen waren älter als der Zeitpunkt des angeblich letzten Pflegebesuchs“, sagt er.
Eine weitere Tätigkeit von Dr. Benecke ist es, den Hergang von Kapitaldelikten zu rekonstruieren. Oft wird er erst ein paar Wochen, Monate oder sogar Jahre nach dem Auffinden einer Leiche zurategezogen.
Da er dann meist den Tatbeziehungsweise Fundort nicht mehr inspizieren kann, muss er sich mit Fotos und kriminaltechnisch gesicherten Spuren begnügen. So untersucht er beispielsweise die unterschiedlichsten Blutspuren und kann Antworten auf viele Fragen geben: Aus welchem Winkel wurde auf das Opfer eingestochen? Handelt es sich um echte Blutspritzer oder sind es von Fliegen verschleppte Blutstropfen? Was verraten die Blutmuster über den Standpunkt des Opfers und des Täters? Wie alt sind die Wunden, die das Opfer aufweist? Nach der Klärung dieser Fragen kann der Hergang des Kapitaldelikts meist einwandfrei rekonstruiert werden, was wiederum zur Lösung des Falls beiträgt.
Dr. Mark Benecke als einzigartiger Spezialist deutschlandweit
Doch was genau macht nun Dr. Mark Benecke und seinen Job so einzigartig? Kriminalbiologe ist kein Beruf, den man in drei Jahren erlernt oder einfach mal so innerhalb von ein paar Semestern studiert. Sucht man im Internet nach Kriminalbiologen, findet man „nur“ Dr. Mark Benecke. Studiengang „Kriminalbiologie“? Fehlanzeige. Dieser Job ist ein Spezialfall, wie man an Dr. Mark Benecke sieht: Er ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Sicherung, Untersuchung und Auswertung kriminaltechnischer Spuren. Während seines Biologiestudiums hat er ein Praktikum in der Rechtsmedizin gemacht und dabei entdeckt, dass ihm die Verknüpfung dieser Disziplinen recht gut liegt. Spezialisiert hat er sich auf die Entomologie, die Insektenkunde. Heute ist er forensischer Entomologe. Einfach gesagt: Er untersucht Kriminalfälle mithilfe von Insekten.
Die Mumien von Palermo und ein kolumbianischer Serienmörder
Gefragt ist Benecke deutschlandweit und auch über die Landesgrenzen hinaus. So hat er zum Beispiel als einziger Kriminalist weltweit den Fall von Luis Alfredo Garavito Cubillos, einem kolumbianischen Vergewaltiger und Serienmörder, untersucht. Dem nicht genug: Neben all diesen Tätigkeiten hat er ab 2003 in Zusammenarbeit mit dem FSB, dem Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, Untersuchungen am mutmaßlichen Schädel und Gebiss von Adolf Hitler in Moskau vorgenommen. Darüber hinaus hat er in Kooperation mit dem Kapuziner-Orden und Archäologen die Mumien von Palermo untersucht. Auf die Frage, ob es für ihn einen Unterschied darstellt, wenn er an einer verwesten Leiche oder einer Mumie arbeitet, antwortet er: „Für mich ist das völlig egal, ob die seit einer Minute tot ist oder seit 1000 Jahren. Das spielt keine Rolle.“
Doch nicht nur die Justiz und Polizei ziehen Dr. Mark Benecke zurate – auch Privatleute wenden sich an ihn, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Vor einigen Jahren haben ihn beispielsweise eine Inhaftierte und deren Angehörige kontaktiert: Die Frau wurde verurteilt, weil sie ihre Mutter getötet haben soll. Das hat die Angeklagte vehement bestritten, die Indizien deuteten aber auf sie als Mörderin hin. Daraufhin hat Dr. Benecke den Tatort, das Haus der Mutter, aufgesucht und sich von dem Geschehen selbst einen Eindruck gemacht. Nach der Untersuchung des Tatorts und der gesicherten Beweise sowie neu gefundener Beweismittel kam er zu dem Schluss, dass die Frau unschuldig ist. „Leider kam es aber zu keiner Wiederaufnahme“, sagt Benecke.
Mit großem Dank an Susanne Wolf und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.