Autist oder nicht? Der DER SPIEGEL hat mich heute (30. Mai 2024) gefragt, wie es zu bewerten sei, dass der deutsche Kanzler "autistisch" genannt wurde. Hier meine Antwort zu diesem Zitat aus der Presse (Buchstaben in Klammern von mir):
»Strack-Zimmermann hatte Scholz einen (a) »krassen Rechthaber« genannt und ihm unterstellt: »Nach drei Jahren stelle ich fest, dass er geradezu autistische Züge hat, sowohl was seine (b) sozialen Kontakte in die Politik betrifft als auch sein (c) Unvermögen, den Bürgern sein Handeln zu erklären. Olaf Scholz hat mich mit seiner Art des Handelns und seiner Nichtkommunikation zutiefst enttäuscht und frustriert, da beides unserem Land nicht guttun«, sagte sie.«
Meine Stellungnahme:
A.
Autistinnen und Autisten können in der Tat stark auf ihrer (meist allerdings zutreffenden und messbar wahren) Auffassung beharren.
Das gilt aber — dann aber auch fuer messbar unwahre Aussagen — auch für Persönlichkeitsgestörte, psychisch Kranke, Menschen mit "überstarken Überzeugungen", Menschen mit "Altersstarrsinn" (Demenz), Traumatisierte und weitere, insgesamt also sehr, sehr viele Menschen.
Das heisst:
→ Es ist nicht treffsicher, als Beispiel für Rechthaberei Autistinnen und Autisten auszuwählen.
B.
Soziale Kontakte in der Berufs-Politik sind meiner Beobachtung nach vor allem berechnender Art.
Als seit weit über zehn Jahren Landesvorsitzender des grössten Landesverbandes der Die PARTEI / Die PARTEI NRW und jemand, der zwei Mal im Europäischen Parlament in Brüssel sprechen durfte (die Vorträge sind im Netz) und in Köln beinahe Oberbürgermeister geworden ist, sehe ich es wie die weit verbreiteten Sinnsprüche à la:
→ "Staaten haben keine Freundinnen und Freunde, nur Interessen."
→ "Politik kennt keine Freunde."
→ "In der Politik gibt es nur Weggefährten, keine Freund:innen."
Das schließt gelegentliche Freundschaften in der "hohen" Berufs-Politik nicht aus, aber diese Freundschaften laufen doch ganz anderes ab als es sich die "Bürgerinnen und Bürger" vorstellen.
Das heisst:
Ich fände es eher seltsam, wenn ein Mensch vorwiegend soziale Kontakte "in die Politik" hätte; das wäre sicher nicht gesund, wie die Lebensgeschichte beispielsweise von Helmut Kohl zeigt.
Autistinnen und Autisten lieben soziale Kontakte, daher hängen sie ja manchmal so gerne den ganzen Tag in Internet-Foren herum; sie mögen nur oft keine Normalo-Parties, Smalltalk, Geschwätz, Gerüche & Gerüchte usw., daher halten sie teils gerne über Handy und Computer oder in Rollenspielen ihre Kontakte.
C.
Die meisten Autistinnen und Autistinnen können ihre Handlungen sehr gut, sachlich und deutlich erklären, wenn sie in Ruhe, stressfrei und offen, ohne Angst vor Aufregung oder gar Strafen sprechen oder malen oder sonstwie sich äußern.
Das heisst:
Handlungen *nicht* zu erklären ist ganz sicher das Gegenteil von dem, was Autistinnen und Autisten gerne tun. Wenn du sie lässt, erklären sie dir drei Stunden alles über ihre Steine-Sammlung, ihre Lieblingsfilme und auch darüber, warum sie eine bestimmte Speise nicht mögen und eine andere doch.
Autistinnen und Autisten lieben es, über ihre Handlungen und Interessen zu sprechen und nerven mit Einzelheiten und Ausführlichkeit andere angeblich "normale" Menschen schnell.
D.
UNABHÄNGIG (!) davon könnte der Kanzler wie viele Menschen ein nicht oder nicht offiziell diagnostizierter Autist sein (oder auch nicht), aber das muss dann anhand von vielen Beispielen und einer klaren, auch lebensgeschichtlichen, Diagnose über mehrere Tage und nach den einheitlichen Regeln der Forschungs-Gemeinschaften = nach den international geltenden Regeln dafür geprüft werden.
Autistinnen und Autisten können alles mögliche, vielleicht auch Kanzler. Nur muss zwischen Wortgeklingel und fachlicher Diagnose unterschieden werden.
E.
Autistinnen und Autisten verwenden den Begriff "Autismus" selbstverständlich, gerne und oft sogar mit einem gewissen Stolz.
Dazu habe ich einige schöne Beispiele auf der Welt-Erziehungswissenschaftler:innen-Konferenz an der University of Glasgow gesammelt, darunter ein Beispiel mit ausschließlich neurodiversen Forscher:innen auf dieser Konferenz. Ist alles auf meinem Youtube-Autismus-Kanal zu finden.
Sehr herzlich —
Dr. Mark Benecke
Vorstands-Mitglied, White Unicorn e.V.
Verein zur Entwicklung eines autisten freundlichen Umfeldes
Mitglied von BMBF-Projekt "SchAut" in Zusammenarbeit mit Goethe-Universität Frankfurt & Humboldt-Universität zu Berlin