Medical Detectives: Vorwort
von Mark Benecke
Damit ich nicht vergesse, woran die Menschen kranken, trage ich eine kleine Liste mit den biblischen Todsünden bei mir. Unter Freunden versuchen wir öfters, alle sieben aus dem Gedächtnis aufzusagen. Versuchen Sie es einmal. Ich vergesse meist die Eitelkeit.
Dankenswerterweise verschlankt das Buch, das Sie in den Händen halten, mein Sünden-Register. Denn nur vier der unangenehmen Eigenschaften -- Gier, Lust, Neid und Ehrgeiz -- haben die Autoren nach eigenem Bekunden aus Tausenden von Fällen herausdestilliert und führen dies sofort anhand interessanter und echter Kriminalfälle vor.
Erfreulich ist dabei, dass die in erster Linie für die Fernsehserie Medical Detectives recherchierten Verbrechen auch in Buchform sehr spannend und sachlich solide aufbereitet sind. Das liegt nicht nur an der gründlichen Recherche (die ich für die deutschen Sendungen, die bei VOX ausgestrahlt werden, hin und wieder selbst überprüft habe), sondern auch an dem pragmatischen Plauderton, mit dem Drehbuch-Autor und Produzent viel mehr als das schon im TV gezeigte erzählen.
So erfahren Sie beispielsweise vom so genannten "Lügen abdrehen" (shooting a lie), das heißt dem Verfilmen einer vom Täter gelieferten, falschen Version des Geschehens. Wie bei jeder kriminalistischen Arbeit gelingt es den Filme-Machern meist nicht, solche unwahren Story-Elemente sauber in Szene zu setzen -- eben weil sie falsch und unlogisch sind. Was uns Kriminalisten allerdings zur Lösung des Falles führt, ist für die Filme-Macher ein Alptraum, denn ohne Bilder können sie den Fall zumindest im Fernsehen nicht erzählen.
Das "Lügen abdrehen" ähnelt übrigens einer Methode, die meine Assistentin und ich oft verwenden, wenn wir Spuren von Fällen wie Kindes-Vernachlässigung, Terrorismus oder Tötungen im Rotlicht-Milieu untersuchen, Fälle, deren Aufklärung unter starkem Druck der Öffentlichkeit stattfindet. In solchen Fällen fürchten wir aus Erfahrung, dass uns die scheinbar offensichtlichen Annahmen über Schuld und Unschuld den Blick auf die reine Wahrheit verschleiern könnten.
Wir stellen uns dann vor, wir wären acht Jahre alt und prüfen aus kindlich unbelasteter Sicht, wie und ob sich die Spuren in einen sinnvollen Tat-Ablauf einfügen lassen. Wenn wir lange genug experimentieren, bleibt aus einem Wust aus Möglichkeiten meist wirklich nur eine einzige Version übrig, die selbst ein Kind überzeugt. Dieser Moment der Erkenntnis nach tagelangem Tüfteln ist schrecklich, aber schön. Denn die reine Wahrheit hat zwei Seiten: Sie ist eine Offenbarung und ein Vergnügen, aber auch eine eiskalte Geliebte, die sich um die Gefühle und Interessen der Beteiligten kein bisschen schert.
Im Grunde ist diese Methode nur eine Fortsetzung derjenigen, die Arthur Conan Doyle schon für seinen Sherlock Holmes erfand: Nicht nur das Erkennen der Wahrheit, sondern auch der Ausschluss des Unwahren führt zum Ziel. "Wenn alle unrichtigen Möglichkeiten widerlegt sind, muss diejenige Erklärung, die übrig bleibt, richtig sein -- egal, wie unwahrscheinlich sie klingt."
Und unwahrscheinlich ist wirklich vieles, was meine Kollegen und ich erleben: Kannibalismus, eingepflanzte Plastik-Adern, Maden in nur einem Auge einer Leiche, haufenweise Fluss-Schnecken auf einer knochentrockenen Wiese sowie alles entscheidende Fingerabdrücke, die erst nach Jahrzehnten auf den Seiten eines ausgeliehenen Buches sichtbar gemacht werden. Gelingt die Aufklärung in solchen Fällen, dann steckt fast immer ein Ermittler dahinter, der hartnäckig, aber vorurteilsfrei geprüft hat, ob nicht vielleicht die offensichtlichste Spur übersehen wurde.
Als Journalisten dürfen Paul Dowling und Vince Sherry allerdings etwas, das mir als Forscher verwehrt bleibt: Die verbotene Grenzlinie zwischen Tatort-Spur und Gefühlen zu überschreiten. Denn was mich in den endlosen Strömen aus Fett, Blut, Haaren, Fäulnis, Sperma und Insekten wohl um den Verstand bringen würde, zeigt ihr Buch wenigstens am Rande: Die fassungslosen und zerstörten Menschen, die jede schwere Tat nach sich zieht. In solchen Momenten ist es gefühlsmäßig völlig egal, wie elegant die Spuren gesichert oder die Tat aufgeklärt wurde: Victims leave victims behind. Allerdings würde ohne eine gute Spuren-Sicherung nicht nur die Seele der Opfer, sondern auch die Wahrheit beschädigt.
Zum Glück geht es mich also nichts an, welche Folgen die von mir ermittelten Tatsachen vor Gericht haben. Weder möchte ich etwas über die beteiligten Personen erfahren, noch muss ich entscheiden, wer gut oder böse ist. Beispielsweise wurden aufgrund meiner angeführten Sach-Beweise schon Sozialarbeiter verurteilt, obwohl sie vielleicht gute Arbeit geleistet hatten. In einem anderen Fall wurde ein Mörder freigelassen, der die Tat zwar begangen hatte, aber wegen falschen Spuren verurteilt worden war. Die rechtlichen Gründe für diese Entscheidungen sind mir egal, und das ist auch gut so. Ich wäre wahrscheinlich der schlechteste Richter der Welt, weil ich jede Tat berufsbedingt von allen Seiten beleuchte. Das würde es mir häufig unmöglich machen, zu entscheiden, wo die ursprüngliche Wurzel eines Streites -- und damit die eigentliche Schuld -- liegt.
Zurück zu meinem Fachgebiet. Die Tatort-Nachstellungen von Medical Detectives sind wirklich gut. Dass die Reenactments, also das schauspielerische Nachstellen, von den haarsträubenden Tatsachen sauber getrennt sind, macht die True-Crime-Serie zu einer der besten auch im deutschen Fernsehen. Wie meine U.S.-amerikanischen Kollegen zeige ich sogar den ein oder anderen Fall aus Medical Detectives in der Vorlesung. Auch deutsche Polizisten hatten in letzter Zeit manchmal gute spurenkundliche Ideen, die, so mein Eindruck, verdächtig nah an kürzlich in der Serie gezeigten Methoden lagen.
Die Suche nach winzigen Blutspritzern und deren Verteilungsmuster an Tatorten wird beispielsweise wieder öfter bei mir angefragt. Unter anderem hat Medical Detectives eindrucksvoll gezeigt, wie wichtig dieser im Grunde alte Hut sein kann.
Natürlich kann auch jeder erfahrene Kollege vom polizeilichen Erkennungsdienst Blutspuren lesen, und jeder Facharzt für Rechtsmedizin weiß genau über Verletzungsmuster Bescheid. Als Team sind wir aber stärker und verstehen auf einmal gewisse Abläufe, die jeder von uns alleine nicht erkannt hätte. Während die Polizisten oft das soziale Umfeld und die Rechtsmediziner den menschlichen Körper vor Augen haben, fummele ich lieber an den schon immer unbelebten (und unbeliebten) Details herum. Das ist der größte Verdienst von Medical Detectives: Serie und Buch zeigen, dass ein Baumkundler und ein Reifen-Spezialist beim Lösen eines Falles manchmal ebenso wichtig sein können wie professionell und intelligent arbeitende Ermittler. Zusammen sind wir sehr stark, alleine aber oft gar nichts.
Ein schönes Beispiel dafür, wie ein kauziger Spezialist einen klassischen Fall entscheidend beeinflusste, war die Untersuchung von Leitersprossen nach der Entführung des kleinen Sohnes des Atlantik-Überfliegers Charles Lindbergh. Bis heute ist umstritten, wer die Entführung ausgeführt hatte]. Zwei Anwälte behaupten dieser Tage sogar beweisen zu können, dass Vater Lindbergh der Täter gewesen sei. Dabei zeigen die Hobel-Scharten und Baumringe der Leiterstücke eindeutig, dass ein deutscher Einwanderer die Leiter gebaut hatte. Da die Polizei nicht nur das Lösegeld in dessen Arbeitsräumen fand, sondern auch die Anschlussstücke eines Stücks der Leiter (sie war aus seinem Speicherboden gesägt), ist der Fall aber längst klar wie Kloßbrühe (näheres dazu in: Mordmethoden, Lübbe, 2002).
Fürchten Sie übrigens nicht, dass die Begeisterung für forensische Wissenschaften Paul Dowling und Vince Sherry blind gemacht hätte. Zwar berichten die beiden Autoren beschwingt vom Zigarettenkippen-süchtigen Hund, Zahnabdrücken in Kaugummi-Stückchen und natürlich vom alten Luminol, und manchmal könnte man fast glauben, dass die Fälle vielleicht ein kleines bisschen übertrieben sind. Aber das täuscht. Die Wirklichkeit war schon immer verrückter, bunter und närrischer, als es je ein Autor auf Papier bringen könnte.
Beispielsweise würden die Leser kaum glauben, dass sich ein Mensch selbst per Post-Paket ins eigene Haus schicken lässt, um dort ein Feuer zu legen. Dabei sprengt er sich aus Versehen hoch, wird über zweihundert Meter durch die Luft geschleudert - und versucht später nichtsdestotrotz, bei der Versicherung das Geld für die unclevere Brandsanierung abzukassieren.
Zum Schluss noch ein großes Lob an das deutsche Team der "Medical Detectives": Axel Düerkop (Regie), Jette Oetzmann (Redaktion) und Uwe Englert (Kamera). Sie haben die sachlich ausgezeichnete Arbeit der U.S.-amerikanischen Kollegen so gut weiter geführt, dass eine ganze Generation von Menschen nun endlich nicht mehr an den allwissenden Quincy denkt, sondern an ein Netzwerk von zwar schlecht bezahlten, aber begeisterten und detailversessenen Spurensuchern.
Berlin, 26. Oktober 2004
Mark Benecke, Kriminalbiologe