Zum Tod darf man keinen Abstand halten

Quelle: National Geographic Deutschland (online) vom 20. Juni 2016
Zum Tod darf man keinen Abstand haltenWie kam die Hand in den Wels, Herr Dr. Benecke?

VON KAROLINE BÖHME

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Mark Benecke ist seit über 20 Jahren promovierter Kriminalbiologe und international auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Forensik, insbesondere der Entomologie, aktiv. Er ist Deutschlands einziger öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für biologische Spuren und absolvierte diverse Ausbildungen weltweit, beispielsweise beim FBI. Für eine Produktion von National Geographic untersuchte er die mutmaßlichen Überreste von Adolf Hitlers Schädel und Zähnen. Im Interview spricht er über Insekten, Hinweise am Tatort und was der Tod für ihn bedeutet.


Wenn Sie eine von Insekten besiedelte Leiche sehen, wie schalten Sie den Ekelfaktor aus?
Für mich ist das nicht eklig. Ich mag Insekten, ich bin sogar Pate der Markusmücke im Berliner Naturkundemuseum. Verwesung ist nichts Widerliches, es ist notwendig für die Umwelt. Sonst würden sich überall tote Menschen und Tiere stapeln. 


Was ist an Insekten so faszinierend?
Insekten sind unglaublich interessant. Sie sind eine uralte Konstruktion, viel älter als Wirbeltiere und sie besiedeln alle Gebiete der Erde. Insekten haben Fähigkeiten, die keine anderen Lebensformen beherrschen. Sie können beispielsweise unter der Decke landen oder in heißen Quellen leben. Säugetiere sind dazu nicht in der Lage und werden sich deshalb in der Evolution dauerhaft nicht durchsetzen. 


Wieso sind Sie wissenschaftlicher Forensiker geworden?
Ich habe mich immer für Naturwissenschaften interessiert, saß als Kind in der Buchhandlung rum und habe alle möglichen Experimentierbücher gelesen. Damals war das noch nicht cool, da hieß es dann: „Oh guck mal, der Junge da im Karohemd.“ Aber ich liebe Tatsachen, Beweisbares, Wahres, Dinge, Spuren, Anfassbares und Messbares. Das alles erfährt der Mensch nur durch Experimente. Deshalb habe ich später zweimal Biologie studiert, ein Praktikum in der Rechtsmedizin gemacht und dort auch promoviert.


Was ist genau Ihre Arbeit an einem Tatort? Auf was müssen Sie achten?
An einem Tatort hat jeder eine andere Aufgabe. Meine ist es, auf Kleinigkeiten zu achten. Die polizeilichen Experten sichern beispielsweise Fingerabdrücke. Das ist für meine Arbeit noch viel zu grob. Ich gucke nach Details, wie Fasern oder Blutspritzern. Ein Klassiker sind die Blutspritzer unter dem Waschbecken, die niemand weggewischt hat. Da ist alles an DNA drin, was man für die Ermittlungen braucht. Oder Zuckerkrümel, die irgendwo liegen, wo sie nicht liegen dürften, weil die Zuckerdose in die andere Richtung umgekippt ist. Diese kleinen Details bringen allein natürlich nichts, aber im Zusammenhang mit den großen Spuren sind sie hilfreich. Wir müssen alles dokumentieren, in einen räumlichen Zusammenhang stellen und vor allem schnell arbeiten.

Oft treten aber auch Angehörige an uns heran, die Spuren entdeckt haben. Ein Beispiel: Bei einem Alkoholiker heißt es schnell: „Ja klar, der hat sich totgesoffen.“ Manchmal kommen Angehörige dann zu mir, weil ihnen die Polizei nicht zuhört und nennen mir ein Detail, das ungewöhnlich für das Umfeld des Opfers war und das nur sie erkennen konnten. Manchmal ist es auch umgekehrt. Wenn in einem Bett viele unterschiedliche Haare liegen, sind das eigentlich wichtige Hinweise. Wenn uns dann aber die Leute vor Ort erklären, dass der halbe Görlitzer Park den Schlüssel für die Wohnung hatte, weil dort mit Drogen gedealt wurde, dann ist es unnötig und nicht hilfreich jedes einzelne Haar zu untersuchen. 


Sagen die Angehörigen denn immer die Wahrheit?
Natürlich lügen die Menschen auch oft, weil sie sich schuldig fühlen Zum Beispiel, wenn sich ihr Kind das Leben genommen hat. Wir erklären ihnen dann: „Es ist uns egal, aus welchen Gründen das passiert ist, uns interessieren nur die Spuren. Wenn Sie uns Märchen erzählen, dann erfahren Sie nicht, was geschehen ist.“ Meistens können wir sie dann überzeugen. 


Bei Ihrer Arbeit müssen Sie sich mit den schlimmsten Formen von Tod beschäftigen. Wie schaffen Sie es, dazu emotional Abstand zu halten? 
Du darfst nicht Abstand halten. Es gibt Polizisten, die nach zehn Jahren zusammenbrechen, weil sie dann auf einmal etwas sehen – beispielsweise ein Kuscheltier an einer Unfallstelle – was alle angestauten Emotionen aus ihnen herausbrechen lässt. Menschen sterben nun einmal, es gibt Kriege, Gewalt und Tod. Wir leben nicht in einer Glücksbärchenwelt, es ist zu 99 Prozent Wahnsinn. Man kann sich davor nicht verschließen, man muss es sich ansehen. Für mich ist es Alltag. Ich habe mich so daran gewöhnt, dass ich es nicht von meinem Privatleben trennen muss. Ich wohne und schlafe sogar im Labor.  


Was war bisher Ihr interessantester Fall?
Die Fälle sind trotz ihrer Unterschiedlichkeit alle gleich interessant. Man muss ein Auge dafür behalten, wie absolut einzigartig und besonders alles ist. Beispielsweise sitze ich gerade vor dem Bahnhof. Da liegt natürlich alles Mögliche auf dem Boden: Zigaretten, Papierschnipsel, Kaffeebecher, Kaugummi, wie vor jedem andere Bahnhof auch. Aber sie unterscheiden sich und weisen andere Spuren auf. Wenn man solche Dinge nicht mehr wahrnimmt, weil sie überall liegen, dann kann man den Job nicht machen. 


Sie haben vor 13 Jahren die mutmaßlichen Überreste von Adolf Hitlers Schädel und Zähnen untersucht. Reizt es sie manchmal, die Untersuchungen weiterzuführen?
Nein, eigentlich nicht. Also, das einzige, was mich daran noch reizen würde, wäre eine Studie zu DNA-Bestandteilen, die auf einer Serviette von einem Verwandten Hitlers gefunden wurden. Daraus ging hervor, dass er von einer Linie nordafrikanischer Juden abstammt. Wenn das tatsächlich so ist, dann lach ich mich tot. Das wäre für mich der einzige interessante Aspekt, Hitlers Zähne aufzubohren, um das endgültig zu beweisen. 


Gucken Sie manchmal Krimis im Fernsehen?
Ich habe noch nie einen Fernseher besessen und gucke keine Krimis. Ich habe auch noch nie einen „Tatort“ gesehen, weil ich, mit Ausnahme von Comics, Erfundenes nicht mag. Nur die Filme „Das Schweigen der Lämmer“, „Seven“ oder die Serie „Hannibal“ gehen, weil die Handelnden recht realistisch und sehr nah an der Wirklichkeit recherchiert und dargestellt wurden. Für mich ist Realität immer spannender als Fiktion. Aber letztens hat mich immerhin Benjamin Griebel, der Gerichtsmediziner aus dem Franken-Tatort, in einem meiner Vorträge besucht. 


Wie stehen Sie persönlich zum Thema „Tod“? Ist der Tod endgültig?
Wenn bestimmte Anzeichen bei einem Menschen eintreten, ja, dann ist er tot. So wie Totenflecken oder die Leichenstarre. Ein Herzstillstand bedeutet nicht immer den Tod. Es gibt sehr junge Menschen, deren Herz nach einem Unfall in Eiswasser sehr lange nicht geschlagen hat und die trotzdem wieder aufgewacht sind. „Tot sein“ ist vor allem eine Sicht des Menschen, der sich manchmal besonders wichtig nimmt. In Wahrheit ist alles ein Recyclingprozess, oder auch ein Fließgleichgewicht. Alles, was der Mensch aufnimmt, gibt er wieder ab. Das, was man denkt, was man ist – dass wir uns für wertvoll halten – ist eigentlich ein guter Witz, im positiven Sinne. Tatsächlich ist alles ein ewiges Recycling. Das Energie-Gleichgewicht in jedem von uns kann von einer Sekunde auf die andere zusammenbrechen und dann ist Schluss, biologisch gesehen. Aber auch, wenn die Erde mal irgendwann einfriert und die Lebewesen nicht mehr da sind, die chemischen Elemente bleiben. Es ist alles eine Frage der Perspektive.


Mit großem Dank an Karoline Böhme und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.