Quelle: SonntagsZeitung (CH) am 29. Oktober 2016
VON ANKE FOSSGREEN
Mücken, Flöhe und Wanzen saugen Blut. Zecken können sich mit dem roten Saft geradezu vollpumpen. Egel zehren bis zu einem Jahr lang von der Mahlzeit. Auch Säugetiere nutzen die nahrhafte Flüssigkeit. Die einzigen Vertreter der Mammalia, die ausschliesslich Blut zu sich nehmen, sind Vampirfledermäuse. Die in Mittel- und Südamerika heimischen Tiere lecken Blut von Rindern, Pferden, Wildtieren oder Vögeln – und können bei einem Biss fast so viel wie ihr eigenes Körpergewicht an Flüssigkeit aufnehmen, bis zu 30 Milliliter, also etwa 30 Gramm. Und der Mensch? «Es ist gar nicht so ungewöhnlich, Blut zu sich zu nehmen», sagt Mark Benecke, Kriminalbiologe in Köln. Dabei meint er nicht nur traditionell lebende Völker wie die ostafrikanischen Massai, die ihrer Nahrung Rinderblut beimischen. Benecke zählt auch hiesige landestypische Spezialitäten auf wie Blutwurst aus der Schweiz oder Deutschland, Blutpfannkuchen aus Finnland sowie den britischen Blutpudding. Menschen essen derartige Gerichte seit Generationen.
Für den Homo sapiens ist Blut aber weit mehr als eine proteinreiche Speise. Es hatte von jeher auch eine «hohe symbolische» Bedeutung, da es in wichtigen Lebenssituationen wie Geburt oder Tod eine Rolle spielt, sagt Christina von Braun vom Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg.
Das Blut nimmt in allen Religionen eine wichtige Stellung ein. Für gläubige Juden sei es beispielsweise undenkbar, Blut zu verzehren, da es Gott gehöre. «Eine spezielle Eigenart in der christlichen Religion ist, dass zwischen gutem und bösem Blut unterschieden wird», sagt von Braun. Während Jesus als Märtyrer «gutes» Blut vergossen hat, gilt das irdische, menschliche Blut als minderwertig. Der in Südosteuropa entstandene Vampirglauben, dass Untote ihren Opfern Blut aussaugen, sei also «das Gegenstück zum christlichen Blut», sagt von Braun. Teuflisch. Die Kulturtheoretikerin hat vor einigen Jahren zusammen mit Christoph Wulf das Buch «Mythen des Blutes» herausgegeben.
Das Blut von Hingerichteten oder Verstorbenen trinken
Dass eine besondere Kraft vom Blut ausgeht, glauben zum Beispiel noch heute die Arbore, ein afrikanischer Volksstamm, der im Südwesten von Äthiopien lebt. Sie nehmen an, dass die Fruchtbarkeit von aussen in ihre Gesellschaft kommt – und zwar durch das Blut ihrer Feinde. Das schreibt die Berliner Ethnologin Anni Peller im Buch «Mythen des Blutes». Wenn sich ein Arbore-Mann mit dem Blut eines von ihm getöteten Feindes einreibt, so wachsen die Pflanzen auf den Feldern seiner Familie besser, die Viehherden vermehren sich, und seine Frau gebiert ihm viele Kinder.
Bereits antike Gelehrte – darunter auch der griechische Arzt Hippokrates – betonten die Besonderheit des Blutes. Sie nahmen an, dass in diesem Körpersaft der Sitz der Seele sei. Wurde jemand dahingemetzelt, so rann mit dem Blut die Seele aus dem Körper. Daraus folgte die Vorstellung, dass bei Menschen, die frühzeitig starben, die Lebens- und Seelenkraft im frisch vergossenen Blut erhalten blieb. Plinius der Ältere beschrieb um 77 n. Chr. – sich geradezu gruselnd –, wie Kranke das Blut von Gladiatoren «wie aus lebenden Bechern» tranken. Das beschreibt der Rechtshistoriker Wolfgang Schild von der Uni Bielefeld.
Noch bis ins 18. Jahrhundert gibt es Berichte, wonach Epileptiker oder Schwindsüchtige das Blut von Hingerichteten schluckten oder sich damit einrieben. Aber nicht nur das Blut von Verstorbenen, sondern auch das bei der Geburt vergossene wurde genutzt. Pulverisiertes Blut aus der Nachgeburt einer Frau nahmen Kranke als Heilmittel ein, und Blut aus der Nabelschnur sollte Leberflecke, Muttermale und Geschwüre bekämpfen. Manch eine Wöchnerin trank gar ihre eigenen «Mutterblutflüsse», um nach der Geburt wieder zu Kräften zu kommen.
Menstruationsblut gegen Gürtelrose
So fasst die Historikerin Eva Labouvie von der Uni Magdeburg einige Anwendungen aus Schriften des 17. und 18. Jahrhunderts zusammen. «Das weibliche Blut symbolisierte Fruchtbarkeit», sagt von Braun. Die Nonne Hildegard von Bingen setzte etwa Menstruationsblut gegen die Gürtelrose ein.
Medizinisch nüchtern betrachtet gilt die kostbare Flüssigkeit heute hauptsächlich als Transportmittel für Nährstoffe und Sauerstoff. Und trotzdem, ganz ist die Mythologie um das Blut auch in unseren Breiten nicht verschwunden. So pflegt zum Beispiel eine Gruppe von Menschen noch heute bestimmte Blutrituale. Sie nennen sich «Vampyre» und stärken ihren Zusammenhalt dadurch, dass sie kleine Mengen Blut voneinander trinken. «Das ist in etwa so wie eine Blutsbrüderschaft», sagt der Kriminalbiologe Benecke, der die Szene seit Jahren beobachtet. Viele der Mitglieder seien sozial eher gehemmt, haben seine Partnerin Ines Fischer und er in einer Umfrage kürzlich herausgefunden.
Die Vorbilder aus dem Tierreich sind hingegen von Natur aus sehr soziale Wesen. Wenn eine Vampirfledermaus hungrig von einem nächtlichen Beutezug zurückkommt, so bettelt sie ihre Artgenossen an. Sie würgen dann etwas von ihrer Blutmahlzeit hoch. Tun sie es aber nicht, wird das bettelnde Tier im umgekehrten Fall später auch nichts abgeben.
Mit großem Dank an Anke Fossgreen und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.