Quelle: Tätowiermagazin 4/2011, Seiten 98 bis 102
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Interview mit philip von Doetinchem
Von Mark Benecke
Philip von Doetinchem ist Experimental-Physiker an sehr bekannten und angesehenen Unis: der RWTH Aachen und an der University of California at Berkeley. Er mag Hardcore-Musik und könnte der erste volltätowierte Nerd werden, der eines Tages eure Kids prüft – falls sie Physik studieren und sich für Alpha-Magnet-Spektrometer interessieren. Anfang April 2011 startet eines der von Philip mitgebauten Messgeräte mit einem Space Shuttle in den Weltraum zur internationalen Raumstation, ein weiteres baut er gerade an der University of California in Berkeley. Mark Benecke hat dem Messgeräte-Spezialisten für kosmische Strahlung auf die Haut geschaut.
Mark: Yo, Philip, ich erinnere mich noch, dich vor gar nicht so langer Zeit verschwitzt von einem Hardcore-Konzert heimkehrend gesehen zu haben. Was für Musik hörst du im Reinraum-Labor?
Philip: Im Reinraum arbeitet man ja meist mit Kollegen zusammen und zudem können Vakuumpumpen oder anderes Equipment ziemlich laut sein, so dass Musikhören eher ausfällt. Wenn ich aber in Ruhe vor dem Computer sitze und beispielsweise Daten analysiere, dann höre ich Sachen wie Johnny Cash, Social Distortion und Hardcore-Bands wie 7 Seconds oder Gorilla Biscuits, aber auch gerne klassischen Metal von Iron Maiden.
Musst Du dich bei der Arbeit sehr auf Deine Geräte konzentrieren? Ist das so ein bisschen wie im Film »2001: Odyssee im Weltraum«, wo der Rechner geradezu ein Team-Mitglied ist, das allerdings auch mehr entscheidet, als es sollte?
Ganz so ist es noch nicht. Unsere Computer scheinen zwar einen eigenen Willen zu haben – manchmal – aber meist liegt es dann an unserer eigenen Unzulänglichkeit. Es gibt aber schon mal die Tendenz, gerade bei jüngeren Studenten, dass sie blind allem glauben, was aus einem Softwarepaket herauskommt, ohne kritisch zu bleiben und zu verstehen, ob das Sinn ergibt, und was die jeweiligen Algorithmen wirklich machen. Allgemein sind Computer ein absolut zentraler Bestandteil meiner Arbeit, um Messgeräte zu kontrollieren und auszulesen oder die gemessenen Daten zu verstehen. Es ist allerdings nicht ganz so wie im Film, wo Computer scheinbar schon alles ohne großes Zutun können. Man muss alles erst beibringen, also programmieren, sonst tut sich nichts. Die Hauptaufgabe ist dann zu verstehen, ob die Programmierung Sinn macht um bei der Fehler nicht verrückt zu werden.
Sind viele deiner Kollegen tätowiert?
Also, in meiner alten Arbeitsgruppe in Deutschland war niemand von den Physikern tätowiert, soweit ich weiß. Bei den Technikern in den Werkstätten kam das bei den Jüngeren aber schon häufiger vor. Bei alten amerikanischen Kollegen habe ich auch mal ein paar Militär-Tätowierungen gesehen. An meinem jetzigen Institut in Kalifornien ist aber sogar mein Chef tätowiert und es gibt auch ansonsten mehr Leute im Institut, die mit teilweise großen sichtbaren Tätowierungen herumlaufen, aber trotzdem immer noch eher Ausnahme bilden. Es scheint insgesamt so zu sein, dass die Physiker eher zurückhaltend bei Tätowierungen sind.
Wie cool sind die Leute an deiner Uni abgesehen von Tattoos? Immerhin ist die Mega-Freak-Hauptstadt San Francisco gleich um die Ecke.
In meiner Arbeitsgruppe sind die Leute ziemlich cool, was auch ein Grund für mich war, dort anzufangen. Das liegt aber bestimmt auch an meinem sehr entspannten Chef. Ansonsten gibt es in Kalifornien insgesamt sehr viel mehr schräge Individualisten als in Deutschland, die sich dann natürlich auch an den Unis wiederfinden. Gerade bei den Studenten habe ich schon einige große und richtig gute Tätowierungen gesehen.
Du warst neulich auf der Tattoo-Convention in San Francisco. Wie waren deine Eindrücke?
Ich war bisher auf zwei Conventions in San Francisco, die sehr unterschiedliches Publikum angezogen haben. Die eine war zwar riesig überall beworben, aber eine eher prollige Angelegenheit und irgendwie nicht so mein Ding. Die Bay Area Tattoo-Convention hingegen war ein echter Hammer, aber leider oder vielleicht zum Glück, nicht so gut besucht. Hier waren einige Superstars wie Shige, Mike Rubendall, die Leute von Black Heart, Grime, Jack Rudy und verschiedene andere extrem gute Japaner bei der Arbeit in einem entspannten Rahmen zu betrachten.
Als ich deine Tattoos neulich auf einer Party fotografiert habe, hast du eins besonders in den Mittelpunkt gestellt.
Das war meine letzte Tätowierung. Es ist eine Hochzeitstätowierung mit einem blumendekorierten Porträt meiner Frau, im westlich traditionellen Stil, mit flammendem Herz und japanischen Wellen. Das Porträt wurde dabei einem der Fotos unserer Trauung nachempfunden. Da ich manchmal dann doch nicht nur rational denkender Physiker bin, bedeutet es für mich, dass ich auf immer und ewig zu meiner Liebsten stehen möchte.
Sehr oldschoolig. Nach welchem Kriterium hast du dein Aachener Studio »The Sinner and the Saint« ausgewählt?
Als ich angefangen habe, tätowiert zu werden, hatte ich wenig Ahnung davon. Ich kannte aber Andreas vom Aachener »The Sinner and the Saint«-Studio vom Sehen, da er auch in einer Hardcore-Band gesungen hat. Da die ganze Szene ja ziemlich gehackt ist und davon auch viele zu Andreas gehen, bin ich dann dort auch vorbei und mir gefiel der Laden direkt. Im Übrigen sind Andreas und Imme wirklich feine Leute mit denen es Spaß macht zu reden, während man tätowiert wird.
Gibt es Momente, in denen du deine Tattoos versteckst? Beispielsweise, wenn du mit Leuten von der NASA oder anderen Behörden zu tun hast? Ich erlebe die ja oft als sehr bieder, oder zumindest tun sie so.
Meiner Erfahrung nach sind Physiker eher informell, und von den Jüngeren laufen nicht viele im feinen Zwirn mit Hemd in der Hose herum. Vorträge halte ich meist einfach in normalen Straßenklamotten, das waren dann beispielsweise im letzten Sommer bei einer Konferenz in Frankreich bei knapp 40°C kurze Hose und T-Shirt. Erfreulicherweise scheinen sich die meisten Nerds eher um Inhaltliches als um Klamotten zu kümmern. Ich muss aber zugeben, dass ich bei meinem Vorstellungsgespräch in Berkeley die Tattoos abgedeckt habe, da ich nicht genau wusste, was mich erwartet.
Hat dich schon mal irgendwer auf deine Tattoos angesprochen, von dem du es wirklich nicht erwartet hättest?
Ich kann leider nicht von irgendeinem besonderen Schlüsselerlebnis berichten, aber der überwiegende Teil der Reaktionen, die ich mitbekomme, ist positiv und interessiert. Da ich auch gern reise, habe ich aber schon ein paar Mal in Ländern wie beispielsweie Thailand, Marokko oder Fidschi interessierte Fragen zu den leuchtenden Farben bekommen. Tätowierungen waren so immer wieder Ansatzpunkt für gute Gespräche jenseits der typischen Touristen-Einheimischen-Konversation.
Erzähl doch noch ein bisschen über den Inhalt weiterer Motive, die du trägst.
Die meisten Tätowierungen zeichne ich selbst vor oder gehe zumindest mit einer halbwegs aussagekräftigen Skizze zum Tätowierer, so dass am Ende etwas auf mich persönlich Zugeschnittenes entsteht. Meine Tattoos sollen mich dabei an Ideale, persönliche Momente und Reisen erinnern. Hier und da gibt es auch mal einen physikalischen Einfluss. Der Gorilla mit Doktorhut soll mir zum Beispiel sagen, dass ich mich nie zu Ernst nehme.
Finden deine Kollegen deine Tattoos komisch?
Ich bin jedenfalls schon eher eine Ausnahme mit meiner Anzahl und Fläche an Tätowierungen, so dass ich damit eher auffalle und vermutlich als schräger Vogel gelte. Bei der Arbeit versuche ich das aber nicht in den Vordergrund zu stellen und durch gute Ergebnisse zu überzeugen. So war mein Aachener Professor ein Physiker der alten Schule und mit seinen über siebzig Jahren in Cordanzügen mit Flicken auf den Ellbogen wahrscheinlich kein großer Fan von Tattoos. Auf Nachfrage eines amerikanischen Kollegens in einem Pub hat er zum Thema Tattoos aber nur mit den Achseln gezuckt.
Umgekehrt: Finden deine Tätowierer deinen Job komisch?
Komisch kann ich nicht sagen. Bei manchen hatte ich den Eindruck, dass sie das schon ganz cool fanden. Die meisten Leute fragen aber sowieso nicht viel weiter, wenn herauskommt, dass ich Physiker bin, und das ist auch bei Tätowierern nicht ganz anders. Aber man muss ja auch nicht immer über den Beruf reden.
Eine perfekte Gelegenheit, es hier im TätowierMagazin zu tun. Erklär doch mal in höchstens vier Sätzen, warum Du so gerne kosmische Strahlung aus Supernovas, dunkle Materie und Antideuteriumkerne misst.
Für mich ist es sehr spannend besser zu verstehen, warum das Universum so aussieht wie es aussieht. Die sogenannte dunkle Materie spielt dabei eine entscheidende Rolle, um beispielsweise die Anordnung von Galaxien zu verstehen. Die Physiker glauben nun recht sicher zu wissen, dass es etwa fünfmal mehr dunkle Materie als uns bekannte Materie gibt, wobei der Name »dunkel« meint, dass wir erstens noch keine Ahnung haben um was es sich genau handelt und zweitens, dass diese Materie nicht in leuchtenden Sternen zu finden ist. Es ist aufregend, dass dieser große Haufen Unbekanntes da draußen zu sein scheint und wir nur wissen, dass er da ist, aber nicht was es ist. Es wäre also echt cool, bei dieser ziemlich existenziellen Frage der Menschheit etwas Licht ins »Dunkel« bringen zu können, wozu die genaue Messung von kosmischer Strahlung hoffentlich beitragen kann.
Sehr wahr und abgefahren. Zurück zu Tattoos: Von wem wirst du dich in den USA zum ersten Mal tätowieren lassen? Und warum?
Ich habe ja bereits ein paar Tätowierungen von Amerikanern wie Kaz von New York Adorned oder Justin Martinez aus San Antonio, aber die nächste Tätowierung aus der Region um San Francisco wird von Paul Dobleman vom Spider Murphy’s Tattoo Shop in San Rafael sein: cooler Oldschool-Stil mit tollen Schattierungen und ein paar guten Extra-Ideen.
In den USA war es früher ja üblich, wichtige Flugzeuge, Schiffe und dergleichen mit einer Comicfigur oder einem kleinen oldschooligen Motiv zu bemalen. Du kannst ja selber auch gut zeichnen und malen. Darfst du das Alpha-Magnet-Spektrometer (AMS), das im April auf die internationale Raumstation fliegt, oder den Weltraum-Detektor für Antideuteriumkerne beim wissenschaftlichen Ballonflug in etwa vierzig Kilometer Höhe, den du gerade in Berkeley baust, auch bemalen?
Coole Idee eigentlich! Das AMS-Experiment trägt ja ein offizielles NASA-Logo, was auch schon was her macht. Vielleicht kann ich ja für mein derzeitiges Projekt an der Logogestaltung mitwirken? Darüber habe ich sogar schon einmal nachgedacht, vielleicht irgendwas mit Lichtblitzen und peitschender See, da unser Forschungs-Ballon von der Küste Japans starten wird.
Aye, chefmässig! Peitschenden Hochsee-Piraten! Danke für das Gespräch – und möge die dunkle Materie sich mithilfe Deiner Arbeit gefälligst deutlicher zeigen!