Strategien zur Tierleidminderung: Kampagne gegen Qualzucht und Qualhaltung

Quelle: Förderverein des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung e.V., 2017

Kampagne gegen Qualzucht und Qualhaltung

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Die Unterzeichner rufen zur Erarbeitung einer tiergerechten Zukunftsstrategie in der Tierzucht und Tierhaltung auf und fordern eine sofortige Beendigung der Qualzucht und Qualhaltung von Puten.

Begründung

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik beim Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft kommt in seinem Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“ von März 2015 zu dem Schluss, dass unsere derzeitige Nutztierhaltung hinsichtlich relevanter gesellschaftlicher Ziele wie Umwelt-, Tier- und Verbraucherschutz nicht zukunftsfähig ist. Deshalb fordern sie tiefgreifende Änderungen in der Nutztierhaltung, da die tägliche Praxis unserer landwirtschaftlichen Produktion in hohem Maße mit Qualzucht und Qualhaltung verbunden ist.


Unter QUALZUCHT ist die Ausübung von Zuchtmaßnahmen zu verstehen, die bei den betroffenen Tieren zu unzumutbaren Schmerzen, Leiden, Gesundheitsschäden und Verhaltensstörungen führt. Das Leid der Tiere aus wirtschaftlichen und gewinnorientierten Interessen zu fördern, heißt, einen ethisch nicht verantwortbaren Zustand billigend in Kauf zu nehmen. Nach §11b des Deutschen Tierschutzgesetzes ist Qualzucht verboten; in der Praxis wird diese gesetzliche Bestimmung jedoch mangelhaft umgesetzt und in der Rechtsprechung viel zu tierhalterfreundlich ausgelegt.


Unter QUALHALTUNG ist eine Tierhaltung zu verstehen, die bei den betroffenen Tieren zu Dauerstress führt, der erzeugt wird durch zu hohe Besatzdichten, lebenslanges Dahinvegetieren im eigenen Kot, Aufwachsen in geschlossenen Hallen ohne Freilandzugang sowie durch Verstümmelungen und Verhinderung artgerechten Verhaltens. Eine solche Qualhaltung wird in erschreckendem Ausmaß rechtswidrig geduldet, da klare Definitionen fehlen, wann Tierzucht zu Qualzucht und Tierhaltung zu Qualhaltung werden. Dementsprechend müssen vom Gesetzgeber unbedingt und ohne weiteren Verzug – wie von veterinärmedizinischer Seite seit langem gefordert – verbindliche Parameter erarbeitet werden, an denen sich Züchter und Vollzugsbehörden orientieren können. Das Ausmaß zumutbarer Einschränkungen muss von züchtungs- und haltungsbedingten unzumutbaren Schädigungen, Schmerzen und Leiden abgegrenzt werden.


Besonders eklatant sind die Missstände hinsichtlich Qualzucht und Qualhaltung in der tierindustriellen Produktion von Puten. Kaum eine Tierart hat in ihrer Entwicklung zum landwirtschaftlich genutzten Tier so viele genetische Manipulationen über sich ergehen lassen müssen und ist unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen ungeeigneter für die industrielle Intensivhaltung als die Pute. Eine EU-Tierschutzrichtlinie für Putenhaltung gibt es nicht.


Berk und T. Bartels (Institut für Tierschutz und Tierhaltung des Friedrich-Loeffler-Institutes) schreiben: „Fußballenentzündungen sowie von Artgenossen zugefügte Verletzungen (‚Kannibalismus‘) gehören sowohl unter Tierschutzaspekten als auch aus ökonomischer Sicht zu den relevanten Krankheitsbildern in der Putenhaltung. … Diverse Untersuchungen deuten darauf hin, dass Haltungs- und Managementfaktoren sowie die Genetik eine wesentliche Rolle spielen. Eine Lösung dieser tierschutzrelevanten Probleme kann nur im Zusammenwirken von einer Verbesserung der Tierhaltung und des Managements sowie der verstärkten Beachtung von Tiergesundheit und Tierwohl in der genetischen Selektion der Zuchtfirmen erreicht werden.“


Aufgrund der gravierenden genetischen Veränderungen und der systembedingten Missachtung tiergerechter Haltungsbedingungen resultieren für die Puten also erhebliche Schmerzen und Leiden. Menschen guten Willens sollten diese Zustände in der Putenzucht und Putenhaltung nicht mehr tolerieren.


Für die EU-Agrarpolitik ganz allgemein gilt: „Das Geld für die Wende wäre da, es müsste nur umgewidmet werden. 6,8 Milliarden Euro an Agrarsubventionen allein durch die EU werden an deutsche Bauern ausgezahlt, die Höhe hängt vor allem von der bewirtschafteten Fläche ab. Besser wäre es, das Geld an den Zustand der Tiere zu binden und parallel dazu ein flächendeckendes Monitoring zu finanzieren“ (Der Spiegel 38/2016).


Die Unterzeichner:

  • Balluch, Dr. Dr. Martin (Obmann des Vereins gegen Tierfabriken, Österreich)
  • Benecke, Dr. Mark (bekannter Kriminalbiologe, Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen der Partei DIE PARTEI)
  • Breyer, Hiltrud (Gründungsmitglied der Grünen, Mitglied des Europäischen Parlaments von 1989-2009)
  • Karnowsky, Prof. Dr. Wolfgang (Vorsitzender des Vorstands der Hanns Rönn Stiftung)
  • Küster, Dr. Angela (Politologin für Agrarökologie und Ernährungssouveränität, Landesvorsitzende Berlin der V-Partei³)
  • Lorenzen, Prof. Dr. Sievert (Vorstandsvorsitzender von Provieh e.V.)
  • Merkel, Prof. Dr. Reinhard (em. Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie der Universität Hamburg, Mitglied des Deutschen Ethikrates)
  • Metzinger, Prof. Dr. Thomas (Leiter des Arbeitsbereiches Theoretische Philosophie und der Forschungsstelle Neuroethik der Universität Mainz)
  • Moore, Prof. Dr. Ben (Director of the Centre for Theoretical Astrophysics & Cosmology, University of Zurich)
  • Neussel, Dr. Walter (1.Vorsitzender des Fördervereins des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung)


Stellungnahme des VGT zur Qualzucht und Qualhaltung mit besonderer Berücksichtigung der Puten aus österreichischer Sicht

Das österreichische Tierschutzgesetz verbietet in § 5 (2) 1. „Züchtungen […], bei denen vorhersehbar ist, dass sie für das Tier oder dessen Nachkommen mit Schmerzen, Leiden, Schäden oder Angst verbunden sind“. Zusätzlich verbietet § 5 (2) 13. es, wenn „die Unterbringung […] eines […] gehaltenen Tieres in einer Weise […] gestaltet [ist], dass für das Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden verbunden sind oder es in schwere Angst versetzt wird“. Darüber hinaus gelten § 16 (1) „Die Bewegungsfreiheit eines Tieres darf nicht so eingeschränkt sein, dass dem Tier Schmerzen, Leiden oder Schäden zugefügt werden oder es in schwere Angst versetzt wird“ und § 16 (2) „Das Tier muss über einen Platz verfügen, der seinen physiologischen und ethologischen Bedürfnissen angemessen ist“.


Diese allgemeinen Bestimmungen sind insbesondere in der Putenhaltung eklatant übertreten. Die in Österreich verwendeten Zuchtrassen sind „Converter“ aus Kanada und „Big-6“ aus England. Diese Tiere werden so schwer und unbeweglich, dass ihnen die natürliche Fortpflanzung nicht möglich ist. Die männlichen Tiere werden gut 5 Mal so schwer, wie ihre natürlichen Artgenossen. Eine Untersuchung des VGT hat ergeben, dass sich die Puten in den Masthallen nur sehr wenig bewegen. 70 % der Tiere bewegen sich im Tagesmittel weniger als 2 m in 10 Minuten, 55 weniger als 1 m. Sie leiden unter Lahmheit, Nekrose der tiefen Brustmuskulatur und Beinschwäche. Die Haltung ist besonders brutal. In Österreich werden etwa 1,3 Millionen Puten pro Jahr geschlachtet. Es gibt 144 Betriebe, die zu jedem Zeitpunkt im Mittel 4500 Puten in ihren Hallen halten. Die Sterberate an den Haltungsbedingungen ist etwa 15 %. Allen Puten werden mit Laser die Schnabelspitzen abgebrannt, damit sie sich nicht vor Verzweiflung gegenseitig picken. Sie müssen in strukturlosen Hallen mit anfangs 3 Puten pro m², später 3 Puten pro 2 m² auskommen. Dazu werden sie die gesamten 5 Monate hindurch nie ausgemistet, ihr Kot akkumuliert bis zu 30 cm Höhe. Und das, obwohl die 1. Tierhaltungsverordnung in Österreich vorsieht, dass bei Tieren die Ausscheidungen „so oft, wie nötig, zu entfernen“ sind. 30-40 % haben entsprechende Wunden an Füssen und Brust aufgrund von Verätzungen. In 70 % der österreichischen Betriebe wird die Beleuchtung mit 20 Lux 24 Stunden pro Tag aufrecht erhalten. Die Tiere zeigen keine Schlafphasen. Stattdessen sind Kannibalismus und schwere Kämpfe prävalent. Auch das Einfangen, der Transport und die Schlachtung von Puten wurden vom VGT in Österreich dokumentiert. Er ist von viel Gewalt und damit verbunden von Leid, Schmerzen und großer Angst begleitet.


Der VGT schließt sich der diesbezüglichen Initiative des Fördervereins des Peter Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung an gegen Qualzucht und Qualhaltung insbesondere von Puten an.


Anmerkung:

Der vorstehende Basistext für Kampagnen gegen Qualzucht und Qualhaltung einschließlich der Ergänzung des VGT ist als organisatorischer Beitrag zur Minderung von Tierleid zu verstehen. Für dementsprechende Kampagnen werden ihn Provieh e.V. in Deutschland und der Verein gegen Tierfabriken (VGT) in Österreich einsetzen. Der Text steht im Übrigen auch anderen Organisationen und motivierten Einzelpersonen, die sich einem Einsatz gegen die inhumanen Zustände in der modernen Landwirtschaft verpflichtet fühlen, zur freien Verfügung. Er kann unverändert einschließlich der Unterzeichnerliste oder in Teilbereichen ohne diese verwendet werden.


Ich danke allen Unterzeichnern und allen Tierfreunden und Tierrechtlern, die an der Verbesserung des Textes mitgearbeitet haben, recht herzlich.

Dr. med. Walter Neussel

(1.Vorsitzender des Fördervereins des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung)
 


Mit herzlichem Dank an Walter Neussel und den Förderverein des Peter-Singer-Preises für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.