"Reiche Menschen landen nicht unschuldig im Knast"

Quelle: Impuls Lifestyle Magazin (Heft 03/16) 3. Juli 2016

VON SVEN KULZER

Klick für's PDF!

Er ist der bekannteste Kriminalbiologe Deutschlands, forensischer Entomologe und Buchautor. Mit der Analyse von Maden, Würmern und Fliegenlarven unterstützt er die Polizei, national und international, bei der Klärung von Gewaltverbrechen. Darüber hinaus ist er Ausbilder bei der deutschen Polizei und Gastdozent an Universitäten in Kolumbien, auf den Philippinen, in Vietnam und in den Vereinigten Staaten. Er untersuchte die mutmaßlichen Schädelknochen und auch die echten Zähne von Adolf Hitler und war der Einzige, der den Fall des kolumbianischen Serienmörders und Vergewaltigers Luis Alfredo Garavito Cubillos, der zwischen 1992 und 1999 über 300 Jungen im Alter zwischen acht und 13 Jahren tötete, unter die Lupe nehmen durfte. Seine freie Zeit ist spärlich gesät, umso mehr freut es uns, dass sich Mark Benecke die Zeit nahm, um sich mit uns zu unterhalten.


Wie bist du eigentlich zu deinem Beruf gekommen? Warst du als Kind schon gerne auf Spurensuche?
MB: Als Kind wollte ich Koch werden, aber Spurensuche … (überlegt) … ja, doch: Ich hab immer versucht, Schneeflocken mit Lack einzufangen. Fürs Mikroskop.


Wirklich?
MB: Ja, dauernd hab‘ ich das gemacht. Und ich hab‘ Staub auf Tesafilm geklebt und ihn untersucht. Daher kann man wohl sagen, dass ich mich schon immer für spurenkundliche Dinge interessiert habe. In der Schule fand ich auch Chemie immer gut. Und dann hab‘ ich Bio studiert, weil ich Bio gut fand, hab‘ während des Studiums ein Praktikum in der Rechtsmedizin gemacht, und so kam das dann.


Was fasziniert dich am Spurenlesen?
MB: Menschen strengen mich oft an. Ich gucke mir daher lieber Dinge an, weil sie so klar, schön und friedlich sind.


In deiner Zeit als Kriminalbiologe hast du schon unzählige Fälle gelöst. Wie geht man damit um, wenn man einen Fall nicht lösen kann, sei es aus Mangel an Beweisen oder Ähnlichem. Beschäftigt dich das dann auch privat, und „kramt“ man diese „ungelösten Fälle“ nach einiger Zeit wieder aus der Schublade, um nochmals drüberzuschauen?
MB: Für mich gibt’s nur Fälle; so richtig gelöst ist ja nie etwas: Was ist schon die endgültige Wahrheit hinter einem Fall? Wenn es spurenkundliche Knackpunkte gibt, ziehe ich sie früher oder später wieder raus. Leider muss ich die Nachuntersuchung meist selbst zahlen, weil jemand, der beispielsweise zehn Jahre unschuldig im Knast war, natürlich kein Geld hat. Unsere KlientInnen sind nie reich; reiche Menschen landen nicht unschuldig im Knast.


Du bist mittlerweile bereits seit über 20 Jahren als Kriminalbiologe tätig. Würdest du sagen, dass sich die Art bzw. die Umsetzung der Gewaltverbrechen verändert hat? Wenn ja, denkst du, dass sich diese Veränderungen auf einen Wandel in der Gesellschaft zurückführen lassen?
MB: Es gab zu allen Zeiten gute Kriminalisten und Kriminalistinnen, einige davon haben es auch zu – etwas kauzigem – Ruhm gebracht wie der Kollege Ernst Gennat aus Berlin, andere sind zu Unrecht vergessen wie Armin Mätzler und viele andere. Auch der Untersuchungsrichter Sòng Cí hat schon im 13. Jahrhundert gute Beispiele für clevere Spuren-Ideen gehabt, die bis heute in neuen Auflagen nachzulesen sind in seinem Buch „ Xiyuan jílù“, das heißt ungefähr das „Hinwegwaschen des Ungerechten“.


Wichtig ist immer, dass die jeweilige Kultur erlaubt, Tatsachen als solche wirken zu lassen. Je besser die kriminalistischen Techniken werden, wie DNA, Fingerabdrücke, Funkzellenauswertung etc., umso mehr hochwertige Tatsachen liegen vor – das ist gut und wird immer besser. 
MB: Die am Prozess Beteiligten müssen aber auch verstehen, was sie tun, welches Gewicht eine Spur hat und was das Ziel des Prozesses ist. Das war schon immer so, schwankt aber politisch durch die Zeiten immer hin und her.


Sich tagtäglich mit Gewalt zu beschäftigen, ist bestimmt nicht einfach. Reicht es wirklich, die nötige professionelle Distanz zu wahren, oder hast du auch noch andere Wege und Möglichkeiten gefunden, die Eindrücke und Erfahrungen zu verarbeiten?
MB: Professionelle Distanz habe ich nicht, ich bin einfach so, dass ich mir auch für andere schrecklich wirkende Dinge anhören kann. Mein Gehirn filtert alles raus, was keine Spuren sind; das fällt einfach durch. Ich helfe Menschen vermutlich auch bei der Trauerarbeit, indem ich ihnen ehrlich sage, wo spurenkundlich Hoffnung besteht und wo nicht, weil keine Spuren mehr vorhanden sind. Meiner Erfahrung nach hilft besonders den Angehörigen auf ihrer Seite ein gutes soziales Netz, das ich ihnen nicht geben kann, und von meiner Seite aus ehrliches Zuhören und Probleme lösen. Kein Mensch, der gerade sein Kind verfault aus dem Löschteich gezogen hat – ein echter Fall –, braucht von mir Mitleid und Tränen. Solche Menschen brauchen einen Weg zur Wahrheit, egal, wie hässlich sie sein könnte. Meiner Frau geht das privat auf den Keks, weil sie, wenn sie ein Problem erzählt, hören möchte, dass es mir leid tut und ich sie verstehe und nicht eine mögliche Lösung des Problems. Das ist der Nachteil an meinem etwas sachlichen Charakterzug 😉


Du hast einmal gesagt „Wer die dunkle Seite in seine Persönlichkeit integriert, kann besser mit Abgründen umgehen.“ Wie genau ist diese Aussage gemeint?
MB: Jeder hat irgendwelche unsozialen Gedanken: „Es sollte an dieser Kasse jetzt mal etwas schneller gehen … kann die alte Lady nicht mal voranmachen?“, „Was wäre, wenn ich nie mehr arbeiten würde?“, oder auch viel härtere Sachen, wie ich sie von manchen Autofahrern bei ihrem unerträglichen Herumgefluche hinter dem Steuer höre. Wenn du dir überlegst, wo dieser Shit herkommt, kannst du dran arbeiten, dich friedlicher (gut für dich) und sozialer (gut für alle) zu verhalten. Das ist das eine. Das andere ist, dass beispielsweise viele Krimileser und -leserinnen zu sehr harten Inhalten greifen, mit Zerstückelungen und Folter. Für wen so etwas ja ganz offenbar einen Reiz ausübt, der könnte doch vielleicht, wenn es ihm oder ihr missfällt, mal dagegen arbeiten, oder, falls es ihm oder ihr gefällt, das Ganze in eine nützliche Richtung drehen und beispielsweise in einem Beruf arbeiten, wo diese Hinwendung anderen Menschen nützt. Wer auf Mega-Blaulicht-Action und Blutfontänen steht, könnte, statt auf der Couch darüber zu lesen, Notarzt oder Notärztin werden. So kommen dunklere und hellere Charaktereigenschaften zusammen und ergeben etwas Schönes und Nützliches.


Als du bei der Wahl des OB in Köln kandidiert hast, meintest du in einem Interview, dass es „der Glaube an das Gute ist“, der dich zu einem geeigneten Kandidaten mache. Ist dieser Glaube nach all den bearbeiteten Fällen wirklich noch vorhanden?
MB: Ja, uneingeschränkt. Ich habe im Erzgebirge beispielsweise genauso viele herzliche, weltoffen-neugierige Menschen getroffen wie in Köln. Wir müssen einfach genügend Platz in der Welt schaffen, der es Menschen wirtschaftlich, sozial und kulturell erlaubt, gut – damit meine ich sozial – zu handeln. Je stärker dieser Spielraum eingeschränkt wird, umso idiotischer ist es natürlich, das Gute aus schwachen Menschen heraus- bzw. hineinprügeln zu wollen. Und dann gibt es noch verrückte Grenzfälle wie die unglaublich freundlichen Menschen in Kolumbien, die aber gleichzeitig der Meinung sind, dass Homosexualität doof ist. Es ist kompliziert! 😉


Kann jeder zum Mörder werden?
MB: Das liest man immer wieder. Ich persönlich glaube das nicht. Ich habe mich in ein paar Situationen und Fällen auch mit Kannibalismus beschäftigt. Da gibt es diese Geschichten von Flugzeugkatastrophen, man ist eingeschneit, und dann beginnt man, Gestorbene aufzuessen. Es gibt recht viel Literatur darüber. Doch da gibt’s immer Leute, die das nicht machen. Die sterben lieber, als Menschenfleisch zu essen. Das ist bei Tötungsdelikten auch so. Es gibt Menschen, die würden das nicht machen, basta. Eltern zum Beispiel, die problemlos den Mörder ihres Kindes töten könnten – und es doch nicht machen.


Es wird ja auch genug gemordet. Geht man nach den Krimis, die allabendlich laufen, müsste Mitteleuropa schon halb entvölkert sein.
MB: Das ist nicht mehr die Lust am Rätseln, das ist ein Druckventil. Die Menschen haben nicht mehr die richtigen Techniken, um ihr Leben zu justieren. Typisch ist das moderne Deutschland. Die Leute trauen sich nicht, den Job zu wechseln, obwohl sie mit Kusshand woanders genommen werden würden. Aber dann müssten sie umziehen oder was auch immer. Stattdessen bleiben sie unglücklich und lesen lieber gewalttätige Literatur. Um Druck abzulassen. Das hat mit den skandinavischen Autoren angefangen. Ich kann das nicht lesen.


Dir geht es bei deiner Arbeit also vor allem darum, Handlungsmuster und Verhaltensstrukturen erkennbar zu machen? Dass es dann gar nicht erst zu einer Tat kommt?
MB: Genau. Klingt ziemlich utopisch, die menschliche Natur neigt schließlich zu Gewalttaten… Manchmal kann man schon die nächste Tat verhindern, wenn man bei Serientätern auf scheinbar unwichtige Details achtet. Beispielsweise der Kolumbianer Luis Garvito, der über 300 Kinder ermordet hat. Vor Ort hatte ich ihn gefragt, warum er am Tatort immer Kronkorken und/oder Schnapsflaschendeckel liegen ließ. Seine Antwort: „Ich hab da einfach gesoffen.“ Das war für mich unheimlich interessant, weil mir da klar wurde, dass die Leute wirklich total dysfunktional sind. Auf eine kranke Art wirkt ihre Tat auf sie innerlich „erlösend“, aber es macht ihnen trotzdem nicht wirklich Spaß. Die Täter stellen uns wohl deshalb auch immer die Frage: „Warum bin ich so?“ Das ist ein sehr guter Ansatzpunkt, von dem aus man mit solchen Menschen manchmal reden kann. Das funktioniert nicht nur bei Psychopathen, sondern auch bei Pädophilen: Dadurch konnte man Therapieprogramme wie „Nicht Täter werden“ entwickeln, wodurch die Zahl der Delikte zurückging.


Du arbeitest und lebst in Köln, bist aber gebürtiger Rosenheimer. Wie viel verbindet dich noch mit deiner bayerischen Heimat?
MB: Ich hatte eine Patchwork-Oma aus Köln, eine aus Ostpreußen und zwei aus Bayern. Das war großartig, weil ich gar nicht erst lernen musste, dass alle Menschen cool sein können, dass Dialekte Spaß machen und etwas Wunderschönes sind, dass nicht alle gleich denken, reden, kochen und sich ähnlich anziehen müssen und dass nicht jeder Brummler auch wirklich brummelig ist. Diese Vielfalt hat es mir auch ermöglicht, schon früh Spuren zu vergleichen, beispielsweise sahen Brezen überall anders aus und schmeckten auch verschieden — aber es gab auch regionale Häufungen. Das ließ sich alles messen, beschreiben und statistisch auswerten. I like!


Mit großem Dank an Sven Kulzer und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.