Haben Sie keine Angst vor dem Zerfall

Quelle: Hildesheimer Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 4. Oktober 2016, Seite 17

VON KATHI FLAU

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Zwei Dinge sind wunderschön, wenn man Mark Benecke fragt: die Wahrheit und die Verwesung. Wenn so ein menschlicher Körper zerfällt, wenn er sich zu verfärben und zu verformen beginnt, wenn der typische Leichengeruch entsteht und Bakterienkulturen dafür sorgen, dass die Maden ins Gewebe dringen können, wenn sich Teile der Haut mumifizieren, während andere Partien von der Luftfeuchtigkeit aufgeschwemmt werden - wenn also der überwiegende Teil der Menschheit kurz davor ist, sich zu übergeben, dann wird der passionierte Forensiker und Kriminalbiologe erst so richtig lebendig.


Aus dem Zerfallsprozess kann der Experte eine Menge über die Umstände eines Todes ablesen. Ob jemand gestern, vor drei Wochen oder schon vor hundert Jahren gestorben ist, eines natürlichen oder eines gewaltsamen Todes, ob er zuvor Schokolade gegessen hat oder Sex hatte oder beides.


Dann allerdings gilt es, aus der Analyse der Spuren Schlüsse zu ziehen. "Und da", so der 46-Jährige, "liegt die Tücke im Offensichtlichen." In allem also, von dem man glaubt, es nicht prüfen zu müssen, weil man es für eine Selbstverständlichkeit hält.


Seinen Vortrag über die zumindest aus seiner Sicht schönsten Dinge der Welt hält Benecke im ausverkauften Audimax der Universität wie eine Vorlesung für Studenten. Er scheucht bunte Bakterienbilder über seinen Monitor, die dann groß auf eine Leinwand projiziert werden, er redet ohne Interpunktion, dafür mit vielen Pointen. Und zitiert Sherlock Holmes, quasi Quelle der Formel allen Ermittelns: "Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, dann muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, wie unwahrscheinlich sie auch scheinen mag."


Die Wahrheit sucht Benecke immer dann, wenn er nicht gerade Vorträge darüber hält. Dass die so amüsant sind, liegt daran, dass er in seiner Arbeit so ganz und gar aufgeht. An der Schnittstelle zwischen dieser Nerd-Liebe, die kein Tabu kennt, und dem halb faszinierten, halb entsetzten Publikum. Es lacht, wenn Benecke auf die Hautverfärbungen eines Toten hinweist und voller Begeisterung sagt: "Schauen Sie mal, so sieht getrocknetes Fleisch aus. Als würden Sie Schinken essen, oder? Ja, Sie essen dann eine Schweinemumie."


Oder über die bakterielle Zersetzung in lebenden Organismen: "Die meisten Bakterien breiten sich im ganzen Körper aus, aber es gibt auch welche, die nur in Teilen vorkommen. Die verschließen an einer bestimmten Stelle Ihre Blutgefäße. Das ist einerseits gut, weil Sie überleben, andererseits sterben ihre Hände oder Füsse vollkommen ab, und das ist dann ja immer ein bisschen unangenehm." Bisschen unangenehm, na klar, man kennt das ja.


Schön auch, dass Benecke mitten in seinem Vortrag Bilder von Hildesheim einstreut. Von seiner Ankunft im Bahnhof, von seltsamen Schildern, komischer Architektur. Natürlich hat die Stadt, im Detail betrachtet, einiges an skurrilen Dingen zu bieten. Es ist nur selten, dass jemand sie sofort bemerkt und dokumentiert, dass jemand mit derart offenen Augen und dieser außergewöhnlichen Beobachtungsgabe durch die Straßen geht wie Benecke. So wird das wohl auch in seinem Kölner Institut sein, wenn er dort Leichen seziert oder Tatortfunde untersucht. Für die Menschen im Audimax hat er an diesem Abend vor allem eine wichtige, in seinen Augen beruhigende Nachricht: ,,sie müssen vor dem Zerfall keine Angst haben. Wirklich nicht. Das ist was sehr, sehr Schönes."


Mit großem Dank an Kathi Flau und die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.