2015 03 Taetowiermagazin: Entspannte Sitten bei den Eidgenossen
Quelle: Tätowiermagazin 3/2015, Seite 128
Von Mark Benecke
Ein sonniger Tag in der friedlichen Schweiz. Im Seifenladen der sonst für Horror-Make-up bekannten Claudia von Rotten machen wir Quatsch. Wie unter Rhein-Anwohnern üblich, kommen wir fi x mit einer Kundin ins Gespräch: Iris heißt sie, ist Grufti, deutlich tätowiert und Mitarbeiterin einer fetten Schweizer Anwaltskanzlei, die was mit Fonds, Investmentgeschäften und Wirtschaftsrecht macht. Kurz gesagt: Es geht um sauviel Geld. In Frankfurt/ Main wäre die Kombi aus tätowiertem Gruft und Wirtschaftselite unvorstellbar.
»Dabei passt das doch ganz gut zusammen «, meint Iris. »Ich bin Kosmetikerin, Maskenbildnerin und ich hatte schon immer eine sehr dunkle Ader. Mit 17, 18 Jahren bin ich nach London gezogen, dann nach Südspanien. Dort habe ich meinen Ex-Mann kennengelernt, der war Schweizer, und so hat es mich hierher verschlagen. Nach meiner Zeit in London kam mir erstmal alles verstaubt und rückständig vor, und die Schweizer langsam und kleinkariert.« Dass man aber selbst in Helvetien tausendfach weltoffener sein kann als der coolste deutsche Businessyuppie, zeigte sich schnell. Iris wurde Assistentin im poshen Kanzleibüro, wo sie an der Rezeption sitzt und niemand – weder KundInnen noch MitarbeiterInnen – ihre Tattoos auf Armen und Schulter übersehen können. »Bis jetzt hat sich noch nie irgendjemand drüber negativ ausgelassen«, berichtet Iris, leicht verwirrt über meine Verwunderung und ergänzt: »Ich glaube, dass die Schweizer tief drinnen viel entspannter sind als die Deutschen. Es gibt weniger Zwänge. Die Hierarchien sind viel fl acher und man duzt sich gleich, wenn man anfängt zu arbeiten. Zumindest im Büro, wo ich jetzt bin. Vielleicht kommt das, weil die Schweiz kleiner ist und die Leute näher zusammenrücken müssen? Wir haben hier ja vier verschiedene offi zielle Landessprachen, und trotzdem kommen die Leute miteinander klar – sie können nicht voreinander weglaufen.«
Manchmal kommt die schweizerische Genauigkeit natürlich trotzdem durch. »Wenn bei uns die Temperaturen über 21 Grad sind«, erzählt Iris, »dann kommen die Anwälte alle in Flip-Flops und T-Shirt.« Gerade und präzis: Ab 21 Grad ist es Sommer in Zürich – für alle. »Sobald ein Klient kommt, müssen sie dann einfach nur ihren Anzug anziehen oder die Tür ihres Büros schließen. Zu mir hat aber noch nie jemand gesagt, ich müsste jetzt etwas anderes anziehen, so dass man die Tattoos nicht sieht.«
Ein Einzelfall? Nö. »Ich habe eine deutsche Freundin«, berichtet Iris, »die wohnt seit sieben Jahren hier in der Schweiz. Sie sagt auch, dass das Arbeiten ein Unterschied wie Tag und Nacht sei. Sie würde nie mehr nach Deutschland zurückgehen und dort im Büro arbeiten. Es ist dort viel kleinkarierter als in der Schweiz – auch, wenn man von außen einen anderen Eindruck hat.«
Daher, Leute: Wenn es euch auf den Zeiger geht, dass eure Blümchen-Tattoos »den« KundInnen angeblich nicht passen: Macht’s wie Iris, schmeißt den Kram hin und checkt in der Schweiz ein. Mal sehen, wie lange dann in Deutschland mangels Fachkräften Urgroßopas Vorurteile gegen Tattoos noch herrschen werden. Ich tippe auf wenige Monate. Damit janz der eure – Marky Mark