An seine erste Leiche kann er sich nicht mehr erinnern

Die WELT, Kultur-Teil, 10. Jan. 2019, online & Druck-Ausgabe, aktuellste Version hier: https://welt.de/kultur/article186869736/Portraet-von-Mark-Benecke-weltweit-bekanntester-forensischer-Biologe.html

Von Clara Westhoff

Draußen wird es bereits dunkel, als sich die Türen des Berliner Naturkundemuseums öffnen. Neben dem 13 Meter hohen Skelett des Brachiosaurus brancai beugt sich Mark Benecke über den Laptop und klickt ein letztes Mal durch seine Präsentation, während das Publikum in die Halle strömt.

Es läuft harte elektronische Musik. Die ersten Reihen können einen Blick auf die Fotos erhaschen, Bilder von Faulleichen und Larven. Neben Benecke steht seine Frau Ines im schwarzen Spitzenkleid und mustert die Anwesenden mit ernstem Blick. Aufnahmen sind erst nach dem Vortrag erlaubt, ebenso Autogrammwünsche.

Wer ist dieser Mann, für dessen kriminalbiologische Vortragsveranstaltungen sich über 250.000 Menschen auf Facebook interessieren? Ein festes Tourprogramm scheint er nicht zu haben, nahezu jedes Event trägt einen anderen Namen – darunter Titel wie „Body-Farm“, „Insekten auf Leichen“, „Hitler’s Schädel“ und „Fälle am Rande des Möglichen“.

Ein blasser Wissenschaftler, Signature Look Schwarz, begeistert in ganz Deutschland Tausende mit nerdigen Wissenschaftsvorträgen über Insekten und Leichen. Man fragt sich fast, ob es sich um Satire handelt oder zumindest um eine Veranstaltung für Fetischisten und morbide Zeitgenossen.

„Fäulnis, Leichenfraß und das Insektensterben“ – so das Motto des Abends. Mütter mit Schulkindern, Frauen mit Kopftüchern, Metalheads und Pärchen in kurzärmeligen Karohemden warten darauf, dass Benecke ihnen Einblick in seine Arbeit als forensischer Entomologe gewährt und erklärt, wie er mithilfe von Insektenkunde zur Aufklärung von Tötungsdelikten beiträgt.

Der Kreislauf des Lebens

Der Beamer strahlt eine Regelliste auf die Leinwand. Vorsicht mit den Fauchschaben. Die Fauchschaben befinden sich vorne in der Box, die Box bitte nicht schütteln. Keine begrüßenden Worte, kein Dank fürs Kommen, kein Scheinwerfer.

Nur ein Headset mit Mikrofon, ein Laptop und eine angestrahlte Leinwand. Das Echo kommt an einigen Stellen kaum hinterher, so schnell spricht er. Erst über die Gefährdung unseres Ökosystems, dann, nach einer Pause, über den Kreislauf des Lebens. Also über Leichen.

Zum Beispiel die aus Köln: Der Mann lag rund sieben Wochen tot in seinem Bett, bevor man ihn fand, ein Mord war nicht auszuschließen. Merkwürdigerweise war nur sein rechtes Auge von Schmeißfliegenlarven befallen. Das Auge war dem Licht einer Lampe zugewandt – untypisch für die Helligkeit meidenden Tiere.

Warum also saßen sie nicht auch auf dem anderen Auge? Eine Fehlinterpretation seitens der Polizei hätte sein können, dass das besiedelte Auge durch einen Stich verletzt und deswegen besiedelt wurde. Durch seine Untersuchungen stellte Benecke jedoch fest, dass die Maden einfach mit dem linken Auge bereits durch waren.

Angesichts der voranschreitenden Vertrocknung des Körpers hatten sie nur noch das beleuchtete Auge als weitere Nahrungsquelle zur Verfügung und nahmen deswegen die Helligkeit in Kauf. Es hatte also keine Verletzung gegeben, der Mord konnte ausgeschlossen werden.

Mark Benecke ist nonstop mit seiner Frau unterwegs. Rund 320 Tage im Jahr schlafen die beiden nicht im eigenen Bett. Ihr eigentliches Schlafzimmer: direkt im Kölner Labor. Ines Benecke unterstützt ihren Mann in vielen Bereichen, sie schrieb schon ein Programm für seine Studenten, damit sie die Auftreffwinkel von Blutspuren nicht mühsam berechnen müssen.

Auch seinen Social-Media-Auftritt managt sie; er meint, nicht die nötige Sozialkompetenz dafür zu haben. Facebook-Kommentare wie „Iss mal was. Du siehst krank aus“ interpretiert Benecke (Veganer, blass) als wohlwollenden elterlichen Ratschlag. Ines fasst sie als Beleidigung auf.

Sie kuratiert die Kommentarspalten, er schaut sie sich nicht mal an. Auch sein Terminkalender wird von ihr organisiert, Fotos und Videos nimmt sie auf. Während der Veranstaltungen, Interviews und Kurse hört sie mit halbem Ohr zu, sitzt in Reichweite am Laptop und arbeitet an eigenen Projekten.

Es ist bemerkenswert, wie viele Informationen Benecke in kürzester Zeit von sich gibt. Erst im Einzelgespräch mit ihm fällt auf, dass er auch Dinge erklärt, die absolut keiner Erläuterung bedürfen. „Kennst du Harry Potter? Dieser Film“, „Helge Schneider ist dieser Musiker, der auch Gags macht“, „Der WDR ist ein großer öffentlich-rechtlicher Fernsehsender“.

Er erklärt einfach alles. Man soll sich wohl nicht unwissend vorkommen. Seine Frau kennt das gut: „Ich betrachte viele seiner Charaktereigenschaften gleichzeitig als Schwäche und Stärke. Er ist immer sehr sachlich und neutral, kann dafür aber nur schlecht seine Gefühle und Bedürfnisse formulieren.“

Einem Mann, der mit Leichen arbeitet, unterstellt man schnell, ein morbider Freak zu sein. Aber Benecke wurde nicht etwa in der Schule gemobbt und hat sich deswegen den Toten zugewandt. Spiderman und Blade Runner, sagt er, haben ihn zu seinem Beruf inspiriert. Chemie lag ihm schon immer. Den alles entscheidenden Moment für die Berufswahl gab es nicht, an seine erste Leiche kann er sich nicht erinnern.

Das Studium der Biologie und Psychologie war eine logische Folge seines naturwissenschaftlichen Interesses, die Promotion über genetische Fingerabdrücke brachte ihn endgültig zu seinem Beruf. Benecke hält sich selbst nicht für exzentrisch. Es sei nur so, dass man die meisten Leute nicht bemerke, die Dinge wie er machen. „Die haben keinen Bock, sich zu erklären. Aber es gibt total viele davon.“

Mark hingegen hat es zum wohl bekanntesten Kriminalbiologen weltweit gebracht. Auftritte bei „TV total“ oder „Medical Detectives“, unzählige Interviews, erfolgreiche Bücher und ein eigener Podcast bei Radio Eins sorgten dafür. Hinzu kommen eine Vielzahl kurioser Engagements. Benecke ist Vorsitzender der Transsylvanischen Dracula-Gesellschaft und Mitglied des Nobelpreis-Komitees für kuriose wissenschaftliche Forschungen.

Benecke ist auch Parteimitglied bei Die PARTEI. Und obwohl er die Satire seiner eigenen Partei nicht immer versteht, weil er das meiste erst mal wörtlich nimmt, findet er es „geil“, wenn politische Satire Menschen zum Gespräch bringt. Von den Parteikollegen wird er für seinen Veganismus ausgelacht. Trotzdem bezahlt er den gesamten Absinth für die Parteiparty und wird mit 100 Prozent der Stimmen zum NRW-Landesvorsitzenden gewählt. 

Bürgermeister wäre der Kriminalbiologe auch fast geworden. Mehr als 23.000 Kölner stimmten 2015 dafür, dass Benecke sie regieren sollte, er landete auf Platz drei. Benecke ist in Köln aufgewachsen. So erklärt er sich auch seine grundsätzliche Unaufgeregtheit.

Dabei bestünde durchaus Anlass zur Aufregung. Als öffentlich bestellter und vereidigter Kriminalbiologe haftet Benecke bereits für leichte Fahrlässigkeit voll und ohne Haftungsbegrenzung. Auf einer Tagung für Sachverständige in Berlin sagte man ihm, dass für das Geld, was er für ein Gutachten bekommt, andere nicht mal den Telefonhörer hochheben würden.

Der Kriminalbiologe zuckt mit den Schultern. „Ist mir egal. Interessiert mich nicht. Ich sehe mich nicht als Wirtschaftsbetrieb, sondern als Wahrheitsbetrieb.“ Also ist es die brennende Leidenschaft? Auch nicht. Eigentlich finde er es nur gemütlich, dass er seine Nische hat, sagt er.

Nach dem Vortrag bildet sich eine lange Schlange vor dem Beamer. Benecke posiert für Fotos, streckt die Daumen hoch und macht Hasenohren. Die Stuhlreihen sind schon abgebaut, als er einigen treuen Fans von den Vorteilen des Veganismus und denen der Markusfliege zu erzählen beginnt, deren Pate er ist. Die Markusfliege ist vollständig schwarz und Benecke mag alles, was schwarz ist.

Bild 1: Das ist natürlich schon – naja – ein bisschen morbid: Mark Benecke ist ständig im Namen des Todes unterwegs.

Bild 2: Dieser Mann erklärt einfach alles.

Mit vielem Dank an die Redaktion für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.

→ Fotos vom Vortrag: https://fb.com/markbenecke/posts/1896530117034347 

→ Interview mit Mark zu Insekten und der Markusfliege: https://fb.com/markbenecke/posts/2015079085179449

→ Video: Hinter den Kulissen des Naturkundemuseums: https://youtube.com/watch

→ Naturkundemuseum Bern: https://fbk.com/markbenecke/posts/1716060741747953 

→ Teaser zu 'Blader Runner'-Vorführung (OV) mit Mark Benecke in Potdam: https://youtube.com/watch?v=z2YPrjW5KV4 

→ Mark Benecke über 'Blade Runner': http://maz-online.de/Nachrichten/Kultur/Kriminalbiologe-Mark-Benecke-ueber-Blade-Runner 

(Fotos mit Paten-Schaukasten im MfN: Hwa Ja Goetz/MfN Berlin · Fotos vor & im MfN: Ines Benecke · Fotos der Präparate im MfN: Mark Benecke)