Quelle: Tätowiermagazin 11/2005, Seiten 72-74
Auf den Spuren eines modernen Tabus
Von Mark Benecke
Die meiner Meinung nach spinnertsten Plätze der Welt sind Medellin, Manhattan, Marrakesch und, bis vor kurzem, New Orleans. Während zumindest die ersten drei auch im TM öfters gewürdigt sind (etwa Medellin in TM 2/2005; NYC in TM 9/2004), ist mir mit dem Untergang von New Orleans klar geworden, dass dort weit mehr absoff als einfach nur mittellose Menschen. Es wurde auch eine Lebens-Weise fortgespült, die sich so schnell woanders nicht mehr entwickeln wird.
Die Stadt galt beispielsweise stets als stille Hauptstadt der Vampire. Das lag nicht nur daran, dass Leichen wegen des hohen Wasserdruckes in der Erde schon immer durch die Straßen trieben und die wackelig-romantischen Häuser viel zu lange vor sich hin ächzten -- ganz wie Untote.
Es lag auch am allgegenwärtigen Glaube an Voodoo, der sich in lagerhallengroßen Läden mit Liebes-Bädern, Fluch-Umkehrern und alles zerstörenden Duft-Ölen äußerte. Auf der Jahrestagung der U.S-Gesellschaft für Rechtsmedizin im Februar diesen Jahres in New Orleans kamen die örtlichen Kollegen daher nicht umhin, eine Lehr-Veranstaltung eigens für durch Voodoo getarnte Verbrechen zu geben.
Es ist also kein Wunder, dass ganz besondere Menschen hier ihren Lebens-Mittelpunkt gefunden hatten. Dazu gehörte Aura Fist, die ich hier vorstellen möchte. Sie geht wörtlich mit dem Kopf durch die Wand, ist fürchterlich anstrengend und traut sich auf keinem der Fotos mit offenem Mund zu lachen, weil ihre Zähne eine einzige Ruinen-Landschaft sind. Für ihre Zähne schämt sie sich, aber nicht dafür, dass sie wie viele Menschen in New Orleans das tut, was sie gerade für richtig hält.
Auras Gesichts-Tattoos sind Ausdruck dieses unbedingten Willens. Aufgefallen ist sie damit im French Quarter von New Orleans übrigens nicht: An ihrem letzten Arbeits-Platz waren erstens mehrere Mitarbeiter im Gesicht tätowiert und zweitens erwarteten die dort vorbeiströmenden Touristen genauso wie die Einwohner des Viertels dort nicht weniger als eine möglichst wilde Welt. Dass diese eines Tages in ebenso wilden Wassern untergehen (oder wie das French Quarter zumindest evakuiert) würde, war nur eine Frage der Zeit. Ich hoffe, dass es Aura gut geht -- wenn ein/e LeserIn sie trifft, möge er bitte ihre neue Anschrift durchsagen, damit sie ihrer Mutter wie versprochen auch wirklich das Beleg-Exemplar des TM senden kann.
"Ich war 23, als es bei mir klick gemacht hat", erzählt Aura Fist. "Ein Kumpel von mir tätowierte sich vor dem Spiegel das Gesicht. Weil ich mir das schon lange gewünscht hatte, bat ich ihn, mich auch zu tätowieren. Ich wusste, dass ich ihm vertrauen kann. Wir arbeiteten beide bei einer Sideshow (Wanderzirkus), dem Hard Times Club aus Minneapolis. Meine Eltern waren Rocker. Wir rannten zu hause nackt rum, und nicht nur meine Eltern, sondern auch alle ihre Freunde waren tätowiert. Meine Mutter war dabei allerdings die Ausnahme: Sie hat bis heute nur einen Schmetterling auf dem Hintern.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Vater mich eines Tages beiseite nahm und sagte: "Du kannst machen, was Du willst, aber Du musst dafür gerade stehen." Damals war ich sieben, und mein Vater ging in den Knast. Danach habe ich ihn nie mehr gesehen. Als ich neulich zu meiner Mutter gefahren bin und sie zum ersten Mal meine Gesichts-Tätowierung gesehen hat, meinte sie bloß: "Mann, Du wirst ja auch immer hässlicher!" Ich habe gelacht und geantwortet: "Und Du wirst immer dicker!" Ansonsten hat meine Mutter nichts gesagt. Sie kramte allerdings ein uraltes Foto aus der Schublade, auf dem ich mein Gesicht angemalt hatte. Ich habe nicht schlecht gestaunt: Es war fast dasselbe Muster, das ich jetzt wirklich tätowiert habe.
Mittlerweile bin ich 30 und für meine Verhältnisse ganz gesetzt. Ich hab ein Häuschen, einen Lebensgefährten und Hunde. Mein Job ist die Mittags-Schicht in der Küche von Flannegan's Pub hier in New Orleans. Im Sommer juckts mich aber meist in den Fingern und ich geh raus, entweder als Bauarbeiterin oder im Herbst als Ernte-Helferin. Meine Schwester ist genau so, sie ist von Beruf Schweißerin. Den Winter verbringe ich oft in New Orleans, weil's hier immer warm ist und auch dauernd eine Party läuft. Ich glaube, New Orleans ist die betrunkenste Stadt der Vereinigten Staaten, und man kann sich einiges leisten, das woanders reichlich Ärger geben würde.
Meine Gesichts-Tattoos sind ein guter Filter. Entweder die Leute sehen hindurch, oder sie bleiben am Tattoo kleben und fragen dann eh nur die selben zwei Fragen: "Ist das echt?" und "Hat das nicht weh getan?" Ich habe unheimlich viele Freunde mit Gesichts-Tätowierungen; das ist für mich überhaupt nichts besonderes. Hier in der Küche arbeitet zum Beispiel mein Kumpel Jared. Er hat seine Tattoos zwar erst seit einem guten Jahr, ist aber kein gutterpunk oder oogle (in etwa: "Poser", "Pfeife", "verwahrloster Loser"), sondern meint es Ernst. Das kann man schon daran sehen, dass seine Gesichts-Tattoos teils abgefallen sind; er hat sie sich dann aber trotz der Vernarbungen gleich neu stechen lassen. Naja, meine Tattoos sind jedenfalls viel älter.
In der Sideshow tourten mit mir auch zwei "Clowns for Life". Das sind Künstler mit auftätowierter Clown-Maske. Allerdings nicht so das klassische Weiß und Lippenrot, sondern eher farbige Kreise auf den Wangen, ein John-Waters-Schnurrbart und solche Sachen. Aus dieser Tour-Zeit stammen auch meine Finger-Tattoos ("Meat Rack"), die sich auf einen der Stunts beziehen, für den ich bekannt bin: Ich hänge zum Entsetzen des Publikums ein Sixpack Bier an meine Schamlippen. Da wir durch alle möglichen Städte und Bundesstaaten getourt sind, gab das schon mal Ärger, denn in den USA ist es verboten, Geschlechtsorgane zu zeigen. Wir haben uns aber nie drum gekümmert und sind von Tennessee über New York bis Alaska überall aufgetreten.
Mein zweiter Stunt war, eine Handvoll Regenwürmer nacheinander durch die Nase einzusaugen und aus dem Mund wieder auszuspucken. Die Tiere haben das meist überlebt, zumindest hab ich sie mehrfach benutzt. Heute sind die Sideshows nicht mehr ganz so angesagt wie Ende der 90er Jahre, es entstehen so langsam wieder richtige Vaudeville-Theater. Da kommt es weniger drauf an, dass man mit Willenskraft etwas durchzieht, sondern man muss auch richtig singen und tanzen können. Das finde ich zwar gut, aber für mich als Künstlerin ist es nichts.
Meine Tattoos haben meist keinen sehr tiefen symbolischen Sinn, sie bedeuten aber natürlich trotzdem etwas. Auf meinem Hintern habe ich zum Beispiel einen Hahnen-Kampf tätowiert, was mir folgenden Spitzen-Witz ermöglicht: "I have two cocks fighting over my ass!" Hehehehe...ich bin halt manchmal etwas zügellos. Auch der rosa Elefant auf meinem Arm hat so eine Doppelbedeutung erhalten. Das Tattoo stammt von Jason Angst aus Pittsburgh, der es wie alle meine Tattoos privat, also nicht im Laden, gestochen hat. Aus "Make me drunk and I fuck you" wurde beim Stechen "Make me drunk, and fuck you", was meine Einstellung mittlerweile eh besser widerspiegelt.
Das große Tattoo auf meinem Bauch ist einer der Voodoo-Geden, ein mächtiger Gott, der viel mit Sexualität und Schutz zu tun hat. Scheint auch zu funktionieren: Bislang habe ich mir weder Kinder noch Geschlechtskrankheiten eingefangen. Der Stern auf der Innenseite meines Handgelenkes ist auch was Besonderes: Die Linien in ihm sind die Adern, die dort wirklich verlaufen. Ich bin mal ins Fenster gefallen und konnte da meine Adern pulsieren sehen, so bin ich auf die Idee gekommen.
Ach ja, der Vogel auf meiner Hand. Der erinnert mich an meinen Ex. Er blieb zu Hause, als ich auf Tour war, und da habe ich mal von ihm geträumt. Allerdings konnte ich mich nicht mehr an sein Gesicht erinnern, sondern nur daran, dass er wie ein Vogel aussieht und auch so eine vogelartige Stimme und rote Ringe unter den Augen hatte. Jetzt sehe ich ihn überhaupt nicht mehr, nur noch das Tattoo. Tja. Mit der Polizei hatte ich komischerweise noch nie Ärger. Zwar werde ich natürlich viel öfter kontrolliert als andere Leute, es ist bisher aber immer gut ausgegangen. Der extremste Fall ist mir ausgerechnet in Texas passiert, wo ich auch aufgewachsen bin.
Ich war nachts um zwei mit einem Auto, das mir jemand geschenkt hatte und deswegen nicht angemeldet war, mit Nummernschildern vom Schrottplatz, zwei Hunden, Alkohol, Drogen und einem der Clowns for Life im Auto unterwegs. Als Kleidung hatte ich nur Chaps (offene Hose) an, sonst nichts. Als wir rausgewunken wurden, war ich hundertprozentig sicher, dass ich jetzt in den Knast wandern würde. Das einzige, was der Polizist sagte, war allerdings: "Zieh'n Sie sich ein Hemd über und fahren sie auf direktem Weg nach Hause, okay?" Das war Magie.
Noch einmal zu den Gesichts-Tattoos. Das einzige echte Problem kann dadurch entstehen, dass sie leicht ausbleichen. Ich selbst habe aber Glück: Meine Haut hält die Farben so gut, dass sie selbst nach vielen Sommern im Freien immer noch recht frisch sind. Nur Gelb und Weiß kann man völlig vergessen, diese beiden Farben verschwinden wirklich sofort. Es gibt seit ein paar Jahren auch neue Pigmente, die deutlich länger halten. Spannend wird es werden, wenn ich tiefe Falten im Gesicht kriege. Darauf freue ich mich schon, das sieht zusammen mit den Tattoos bestimmt interessant aus. Vorher erweitere ich die Muster aber noch ein bisschen; besonders auf die Oberlippe muss unbedingt noch was drauf. So, jetzt muss ich mal los, mein Hund hat sieben Welpen bekommen und ich hab' deswegen seit bestimmt drei Wochen nicht mehr geschlafen. Bitte schick mir das Tätowier-Magazin mit dem Artikel über mich -- den will ich meiner Mutter zeigen. Dann ist sie garantiert stolz auf mich."