Mark Benecke über seine Tätigkeit als Prospektbote

Kölner Stadt-Anzeiger, 9./10. April 1988, Wochenend-Teil

Mit leicht eingezogenem Kopf und etwas gebückt trete ich in den Hausflur. Im Dämmerlicht erkenne ich alte Holzbriefkästen mit schönen ovalen Öffnungen. Ich falte das Flugblatt einmal und stecke es in den Schlitz, nicht ohne etwas nachzustopfen. Das nächste Mal falte ich zweimal, jetzt geht es ohne Probleme hinein. Fragt sich nur, was die Bewohner dieses etwas muffigen Hauses denken, wenn sie morgen früh ihren Briefkasten öffnen. Manch einer mag erfreut feststellen, daß — weil sowieso keine normale Post mehr kommt — wenigstens ein bißchen von der weiten Welt zu ihr oder ihm gelangt ist. Einige werden schimpfend in die Wohnung zurückgehen und den bunten Zettel ungelesen zerknüllen. Die meisten jedoch werden den vierfarbigen Prospekt auffalten, vielleicht von den angebotenen Reisen träumen, um ihn dann doch wegzuwerfen. Zeit zum Nachdenken habe ich genug während des immer gleichen Vorganges: Zettel ziehen, Zettel falten, Zettel einwerfen. Manchmal schrecken mich dabei Bewohner auf, die mit Blicken, die von mürrisch (indifferentes Grunzen) über skeptisch ( „Geb'n Se mal her!" ) bis freundlich ( „Danke schön") reicht, an mir vorbeigehen.

Zumeist kommt man sich jedoch als unliebsamer Zeitgenosse vor, der nichts anderes im Sinn hat, als fremder Leut's Briefkästen vollzustopfen. In einer hellen, begrünten Hochhausvorhalle nahm einmal ein Herr den Prospekt aus seinem Kasten, musterte mich kurz und warf ihn mir dann zerrissen vor die Füße. Die häufige Kritik am Verteilen von Prospekten verstehe ich in diesem Zusammenhang nur schwer. Regelrecht „vollgestopfte" Briefkästen habe ich in all den Jahren erst ein einziges Mal gesehen. Und das auch nur, weil zufällig mehrere „Einkaufsparadiese" am anbrechenden Weihnachtsgeschäft teilhaben wollten.

Im allgemeinen finden sich doch stets nützliche Angebote auf den Zetteln: eine gute Idee für ein Geschenk oder eine billige Kaffeefahrt nach Luxemburg. Die günstige Gelegenheit für den alltäglichen Einkauf oder der Hinweis auf ein Schnäppchen zwischendurch. Jeder macht Gebrauch von den Anregungen, die im ersten Moment oft auf Ablehnung stoßen. Warum also die Aufregung? Erfreulich war da einmal die Reaktion einer älteren Dame, die schon die ganze Zeit aus dem Fenster gelehnt mir zugeschaut hatte. In dieser Straße prangt an jedem dritten oder vierten Briefschlitz ein rot-weißes Schild mit der Aufschrift: „Keine Reklame!". Als ich nun an ihrem Eingang angekommen war, schaute sie mich freundlich an und sagte: „Schön, daß Sie sich Ihr Taschengeld etwas aufbessern. Ich hoffe, daß Ihnen die Arbeit Spaß macht."

Angenehm sind die silbernen Luxuskästen

Solche Momente lockern den anspruchslosen Job etwas auf. Witzig ist es auch, sich die Namen auf den Klappen anzuschauen. Von Engel bis Teufel, von Armbruster bis Beinhauer und von Meier bis Nediyaklaparambil reicht hier das Spektrum. Vom kölschen Adel, den Schmitzens, sehe ich hingegen selten etwas. Ein anderes interessantes Anschauungsobjekt sind die vielfältigen Briefkasten-Arten. Angenehm zu öffnen sind die silbernen Luxusbriefkästen mit leichtgängigem Scharnier und schön breiten Schlitzen. Ärgerlich (sicher noch viel mehr für Postboten) sind Kästen mit zu kleinen Schlitzen, verrosteten Ecken und/oder doppelten Klappen. Bei letztgenannten verbuckelt man nämlich entweder das Papier oder reißt sich die Finger auf.

Für Austrageanfänger sind solche Briefkästen gefährlich, die in Bodennähe (in Haustüren) montiert sind. Dort kann es passieren, daß die Prospekte beim Bücken aus der Tasche fallen und sich in alle Winde verstreuen. Von Zeit zu Zeit bleibt während des Verteilens ein Kleinbus quietschend vor mir stehen, vier bis fünf Leute springen raus, wetzen zu den Eingängen, werfen blitzschnell die Prospekte ein, verschwinden wieder. Das sind diejenigen, die von überregionalen Supermarkt-Ketten pro einhundert oder gar tausend Stück Geld bekommen. Ich habe das Glück, nach Zeit zu arbeiten. So kann ich für mich bestimmen, wann und wieviel ich auf einmal verteile. Wenn alle Zettel weg sind, addiere ich die Zeit und werde (großzügig) ausbezahlt. So bleibt mir auch mal Zeit, kleine Aufträge für einzelne zu erledigen.

So geschah es einmal, daß ich geklingelt hatte, um an die Kästen zu kommen. Es öffnete eine Dame, die offensichtlich gehbehindert war. Sie fragte, was ich da mache, und es entspannt sich ein kleiner Dialog, in dem sich herausstellte, daß sie ihrer Tochter eine Reise an die Nordsee schenken wollte. Da meine Prospekte jedoch nur Südseereisen offerierten, brachte ich ihr bei der nächsten Tour einen passenden Katalog vorbei. Während man sich also ständig in einem Wechselbad von Sympathie, Antipathie, Langeweile und Interesse befindet, werden weiter tonnenweise Flugzettel, Prospekte und Kataloge entworfen, produziert und ausgeliefert, bis sie am Ende bei Menschen wie mir landen. Ich lasse sie in Hunderten von dunklen Briefschlitzen verschwinden mit dem Glauben, daß sie von Nutzen sind.

Mark Benecke (17) ist Schüler und lebt in Köln


Der Herr der Maden liebt das normale Leben

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