Quelle: https://noizz.de/entertainment/stalking-hallus-paranoia-dr-tod-mark-benecke-erklart-den-iphone-film-unsane/x8y7xdj (und viele weitere Websites)
Eine junge Frau verlässt ihre Heimatstadt, um ihrer belastenden Vergangenheit zu entfliehen und beginnt einen neuen Job. Als sie jedoch unfreiwillig in einer psychiatrischen Einrichtung festgehalten wird, wird sie mit ihrer größten Angst konfrontiert – aber ist sie real oder nur ihre Einbildung? Da anscheinend niemand bereit ist, ihr zu glauben und die Behörden ihr nicht helfen können oder wollen, muss sie sich mit ihren Ängsten direkt auseinandersetzen.
Um uns auf den Kinostart von UNSANE – AUSGELIEFERT, den psychologischen Thriller von Regisseur Steven Soderbergh einzustimmen und die unheimliche Thematik hinter dem Film näher unter die Lupe zu nehmen, hatten wir die Chance, einige Worte mit dem deutschen Kriminalbiologen Mark Benecke zu wechseln.
Frage: Im Film wird Hauptcharakter Sawyer Valentini so sehr von einem Stalker belästigt, dass sie sich gezwungen fühlt, in eine andere Stadt zu ziehen. Ab wann wird ein Mensch als Stalker kategorisiert?
Mark Benecke: Wenn ein Mensch einem anderen mehrfach unerwünscht auf die Pelle rückt -- körperlich oder durch irgendwelche Mitteilungen.
Wie sehr kann ein Stalker die Psyche seines Opfers schaden?
Das hängt vom eigenen Charakter ab. Wer gelernt hat, unangenehme Dinge wegzulachen oder sich zu wehren (oder beides), der wird weniger mitgenommen. Wer sich in die Rolle des oder der Verfolgten einordnet, kann es sehr hart spüren; als Schlafstörung, Panik, wenn das Telefon klingelt, bis hin zu echten Posttrauma-Folgen, wie bei Menschen, die im Krieg waren.
Es gibt einen wirklich guten, komischerweise kaum bekannten Film von John Lennon und Yoko Ono dazu: »Rape«. Die darin verfolgte Person weiß offensichtlich nicht, dass sie sich recht einfach wehren kann: Durch Öffentlichkeit und Polizei. Sie verschanzt sich sozusagen in ihrer Bude und schmeißt die beiden Verfolger einfach nicht raus, bis einiges zu Bruch geht.
Diese Stimmung finde ich ganz treffend für das Gefühl, das viele gestalkte Menschen haben.
Wie realistisch ist es, dass Menschen sich „aus Versehen“ Zwangseinweisen? (Unterschrift auf dubiosen Formular à Gefangen in Psychiatrie)
In modernen, demokratischen Ländern passiert das echt nicht. Ich arbeite in Deutschland regelmäßig mit nervlich sehr schwachen Klient*innen und nehme an psychiatrischen Tagungen teil, bei denen wir auch auf die Stationen gehen. Dort herrscht spürbar der Geist, Menschen zu ermuntern, wieder zu Kräften zu kommen und ins Leben zu gehen, anstatt sie unnötig zu behandeln.
Wenn ich mich recht erinnere, hat es meinen Kollegen, den Biologen Schores Medwedew, unter Stalin fast erwischt, so wie tausende anderer bei den großen Zwangspsychiatrisierungs-Aktionen in der Sowjet-Union. Man hat dabei manchmal versucht, eine entfernte Art der Selbsteinweisung hinzubiegen. Der bekannte Dichter und Faschist Ezra Pound wurde auch psychiatrisiert, allerdings musste er sich nicht selbst einweisen.
Für einen Horrorfilm ist es aber eine großartige, weil eben superbeklemmende Idee — der wirklich blankest mögliche Horror, den ich mir vorstellen kann.
Können enorme Angstzustände zu Halluzinationen führen? Was führt generell zu Halluzinationen?
Das ist eine Einzelfall-Sache. Wenn ich sehr viel Angst habe, dann achte ich auch mehr auf Details, die mich wegen der Aufregung und falscher Einordnung weiter ängstigen können. Das sind aber keine Halluzinationen, sondern vielleicht sehr feste, vielleicht auch überbewertete Eindrücke.
"Echte" Trugbilder, die nicht aus dem Augenwinkel oder im Schreck entstehen, entstehen durch Substanzen wie LSD, hohe Mengen THC aus Cannabis, Schlafentzug, Schizophrenie oder ähnliches.
Gibt es für Betroffene eine Möglichkeit, den Unterschied zwischen Realität und Halluzination zu erkennen?
Naja, wenn ich die Überzeugung sehe, mit der manche Menschen ihren Fußballverein oder ihre Religion für wahr und gut halten, dann kann ich mir schon vorstellen, wie sich Menschen mit echten Halluzinationen fühlen müssen.
Im Alltag frage ich einfach andere Menschen, ob sie etwas Komisches auch sehen oder hören. Bei Überzeugungen verschwimmt die Grenze aber: Ist das jetzt eine Spionage-Kamera oder doch eine Kreuzschlitzschraube gewesen? Denn es gibt Kameras, die in Kreuzschlitzschrauben-Köpfe eingebaut sind... Es ist nicht immer ganz leicht zu prüfen, was man sieht, wenn man es nicht zerlegen kann, sondern "nur" sieht.
Wenn es Zwischenstufen sind, hilft ein Logik-Check: Wo sollen die Schlümpfe herkommen, die gerade durch den Schnee laufen und singen?
Wie entstehen Paranoia?
So ähnlich wie Halluzinationen: Durch vielleicht schon vorhandene überwertige Überzeugungen, Drogen, Schizophrenie, also Gehirn-Botenstoff-Veränderungen und dergleichen. Es gibt, wie gesagt, auch immer Zwischenstufen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass ein von Grund auf gesunder Mensch paranoide Verhaltensweise entwickelt?
Wenn's dauerhaft sein soll, dann ist das sehr selten. Gesunde Menschen haben ja auch gesunde Möglichkeiten, eine Wirklichkeits-Prüfung durchzuführen. Kurze psychotische Erlebnisse kommen etwa bei einem Prozent aller Menschen vor, weltweit und egal, in welcher Kultur.
Jeder kann aber in bestimmten Bereichen seines Lebens ziemlich "paranoid" im umgangssprachlichen Sinn werden. Dann sehe ich beispielsweise die Haarfarbe oder Frisur einer Person, die mich wirklich geärgert, verfolgt oder tyrannisiert hat, in der Einkaufsstraße und mir wird schlecht oder ich kriege Herzrasen. Solche Begegnungen meide ich dann vielleicht für andere auffällig, überstark und "paranoid". Das ist aber ein natürlicher Vorsichts-Mechanismus des Gehirns, der dennoch lästig werden kann.
Psycho-Horrorfilme spielen damit, die Grenzen zwischen echter Krankheit, kürzeren Episoden und Alltagsangst zu verwischen.
Im Film versucht die Mutter von Sawyer, ihrer Tochter zu helfen. Wenn ich mitbekomme, dass ein Familienmitglied, Partner oder Freund paranoide Verhaltensweise aufweist: Wie kann/soll ich da reagieren?
Abklären und besprechen, was genau die- oder derjenige denkt oder fühlt. Das ist im Alltag kein Problem: Offene Gespräche, eine gute Atmosphäre, Vertrauen. Sobald es klinisch wird, muss ein Profi ran, denn was ist mit magisch-religiösen Erfahrungen? Sind die schlimm? Sind sie krankhaft? Wie sehr spielt eine Sucht in die Paranoia und ist die "echte" Ursache, unabhängig vom echten Angst-Inhalt? Wieviel Einsicht hat er Mensch, ist er beispielsweise intelligenzgemindert und versteht die Umwelt gar nicht so richtig?
Da helfen dann freundliche, offene Gespräche im Familienkreis nicht mehr, sondern nur noch eine saubere Untersuchung durch psychologisch oder psychiatrisch beweisbar geschultes Fachpersonal.
Nachdem Sie den Trailer gesehen haben, was würden Sie Sawyer Valentini diagnostizieren?
Im Trailer ist dazu nichts Genaues zu erkennen. Als Spurenkundler würde ich erst mal kriminalistisch prüfen, was genau wann genau wo genau wem genau —ganz wichtig: durch Spuren belegbar — passiert ist.
Wie sollte sich ein Mensch, der sich in einer ähnlichen Situation wie Sawyer befindet, verhalten?
Diese Frage ist gruseliger als sie sich anhört. Da ich in einer Psychose ja überzeugt bin, dass alle anderen spinnen, müsste ich mich mit allen Mitteln "befreien". Das ist aber schon alleine deshalb kein guter Rat, weil ich mich ja immer, auch ohne Psychose, irren kann. Sich beruhigen und eins und eins zusammen zählen ist eine gute Idee, aber unter Stress und Angst ist das den meisten Menschen auch nicht möglich. Im Grunde ist das Problem unlösbar. Eben einfach Horror...
Ergänzung
Von Monika Kreusel (http://blumenwiesen.org)
Der Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke bot mir nach einem Austausch per Mail an, einen kurzen Text zu schreiben zu diesem Interview, welches er zum Kinofilm Unsane gegeben hatte. Mir war folgende Antwort von ihm auf die Frage nach den möglichen psychischen Folgen von Stalking aufgefallen:
„Das hängt vom eigenen Charakter ab. Wer gelernt hat, unangenehme Dinge wegzulachen oder sich zu wehren (oder beides), der wird weniger mitgenommen. Wer sich in die Rolle des oder der Verfolgten einordnet, kann es sehr hart spüren; als Schlafstörung, Panik, wenn das Telefon klingelt, bis hin zu echten Posttrauma-Folgen, wie bei Menschen, die im Krieg waren."
Nun, mit dieser Antwort bin ich inhaltlich nicht glücklich. Statt vom Charakter der Opfer zu sprechen, hätte es mir mehr gefallen zu lesen, dies sei mit auch von Eigenschaften der Persönlichkeit abhängig. Das wäre präziser, um hierbei wesentliche Faktoren zu benennen und zudem neutral. Vom Charakter zu sprechen könnte von Stalkingopfern als beschuldigend und wertend empfunden werden, während eine solche Formulierung auf andere Leser in einer Weise wirkt vielleicht, die zu einer Stigmatisierung beitragen könnte. Mir geht es hierbei um eine Sensibilisierung für einen bewussten Umgang mit Worten in der öffentlichen Darstellung von Opfern von Straf- und Gewalttaten.
Zu den psychischen Folgen von Stalking möchte ich aus meiner Sicht auch folgendes sagen: Es gibt unterschiedliche Formen von Stalking und es ist an sich nicht so, dass Stalking immer die Voraussetzungen erfüllt, die für die Feststellung einer Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erforderlich wären, wenngleich es zu Symptomen einer PTBS kommen kann. Das trifft ganz besonders bei der Form des Stalkings zu, die eine tatsächliche Bedrohung des Lebens und mit Gewalt (bis hin zu tatsächlichen Tötungsdelikten!) beinhalten kann. Diese Form des Stalkings kommt bei ehemaligen Partnern vor. Das ist dann nichts mehr, was jemand in einer solchen Situation weglachen könnte, um auch diese Formulierung aufzugreifen. Da reicht es auch nicht allein, nicht nachzugeben gegenüber Forderungen und Drohungen, da geht es möglicherweise wirklich um das eigene Überleben, praktische Strategien und möglicherweise erforderliche Maßnahmen wie ein Umzug oder auch den Tagesablauf unabsehbar zu gestalten. In den 1990er Jahren habe ich Erfahrungen machen müssen, die einen Hintergrund in organisierter Kriminalität hatten und somit kein Stalking waren. Die angesprochene bedrohliche Form des Stalkings weist damit jedoch Gemeinsamkeiten hinsichtlich konkreter Verhaltensweisen auf und schon daher haben Stalkingopfer mein vollstes Mitgefühl, besonders wenn sie vergleichbares durchleben müssen wie ich damals. Ich selbst habe für mich neben dem polizeilichen Personenschutz, den ich so erhielt glücklicherweise, jeweils regelmäßige Termine nach einem selbst in der Situation spontan entwickelten System organisiert. Auch weiß ich zu gut, wie es sich anfühlt mit dem Bewusstsein zu leben fortwährend, dass der nächste Schritt vor die Tür der letzte sein kann.
Es handelt sich also schlimmstenfalls bei Stalking durch einen ehemaligen Partner um eine möglicherweise länger anhaltende extreme Belastung, besonders wenn dabei Morddrohungen ausgesprochen und ggf. Gewalt angewendet wird. Insofern hängen die psychischen Folgen nicht allein von individuellen Persönlichkeitsseigenschaften ab, wie jemand in der Lage ist, Stalking zu bewältigen, sondern auch mit von der Form des Stalkings. Nicht ohne Grund und auch das ist nicht unbedeutend hierbei anbetracht der rechtlichen Möglichkeiten, die durch eine Änderung von Gesetzen geschaffen wurde, sofern man diese Möglichkeiten tatsächlich nutzt und sich auch an die Polizei wendet und Beratung in Anspruch nimmt. Dabei gibt es auch bewährte praktische Strategien, die genutzt werden können neben rechtlichen Schritten. Neben verschiedenen posttraumatischen Symptomen, selbst wenn nicht insgesamt die Kriterien für eine PTBS erfüllt sind, kann es bei einer fortwährend erlebten Gefahr für das eigene Leben darüber hinaus, wie es auch bei Stalking durch einen gewaltbereiten ehemaligen Partner möglicherweise der Fall sein kann, zu einer andauernden Persönlichkeitsänderung kommen. Damit wäre ich dann wieder beim Charakter, um auf die obige Antwort zurückzukommen, welche unbeabsichtigt implizieren könnte, mit einem entsprechend 'starken Charakter' überstehe man Stalking auch ohne posttraumatische Symptome. Es ist aber keine Schwäche, solche Symptome zu entwickeln, wenn die Lebenssituation und die konkreten Erfahrungen so schwerwiegend und bedrohlich sind, dass man womöglich tatsächlich einer Gefahr für das eigene Leben ausgesetzt ist.
Für weitergehende Informationen verweise ich auf diese beiden Seiten und bedanke mich herzlich für das Angebot von Dr. Mark Benecke selbst etwas zu schreiben zu dem, was ich ihm gegenüber angesprochen hatte.
(Diese polizeilichen Informationen sind zwar aus dem Jahr 2007, aber erscheinen mir nützlich hinsichtlich der unterscheidbaren Formen von Stalking und auch der sozialen Folgen sowie auf Ebene der möglichen Symptome einer PTBS etc.)
https://www.polizei-beratung.de/opferinformationen/stalking/