Kettensägenfetisch und Bling - Bling - Studio (Tätowiermagazin)

Quelle: Tätowiermagazin 09/2012, Seite 144
Kolumne mit Mark Benecke

Von Mark Benecke

*© Tätowiermagazin

Tätowiermagazin

Gerade holte ich mir am Züricher Bahnhof einen Kaffee, als mir eine sehr stark tätowierte Dame etwas hinterherrief. In der Schweiz? Da kennt mich eigentlich keiner. Gerufen hatte Birte: Tätowiererin und zufällig die Kaffee-Kundin hinter mir. Das wäre nicht so spannend, wenn Birte mir nicht kurz zuvor einen menschlichen Schädel vermacht hätte. Der schwamm eigentlich in ihrem Goldfisch-Aquarium. »Er hatte im Laufe der Jahre aber Moos angesetzt und meine Goldfische interessierten sich auch nicht so richtig für das Teil«, erklärte sie mir damals.

»Ich fahre dreimal im Jahr als Gasttätowiererin zu Giahi«, erzählt Birte, die eigentlich Chefin des Ladens »Cross My Heart« in Bonn ist, weiter. »Vor ein paar Jahren hatte ich mit meinem Vater eine Städte-Tour gemacht. Irgendwann sagte ich zu ihm: ›Papi, guck du dir gern die alten Häuser an, ich geh lieber in Tätowierstudios.‹ Das Stuido Giahi in Zürich gefiel mir auf Anhieb. Ich hatte zwar noch nicht einmal eine Mappe dabei, sagte den KollegInnen aber, dass sie sich ja meine Website angucken könnten. Das war Samstag. Montags öffnete ich eine Mail mit der Frage, wann ich anfangen wolle ...«

Das Studio Giahi? Allen TM-LeserInnen durch die fettesten, doppelseitigen Glitzeranzeigen bekannt ... und darin arbeitet Birte, eine linksalternative coole Sau aus Bonn, die man sich nicht so richtig zwischen Designerlampen und in Bali eigens vor Ort eingekauften Möbeln vorstellen kann. »Für mich ist das einfach eine schicke und ungewohnte Abwechslung«, erzählt sie. »Andere fahren als Gasttätowierer in die Ferne, ich nach Zürich.«

Kommen die pragmatischen und Deutsche oft scheel beäugenden Schweizer mit der Rheinländerin klar? »Passt absolut«, sagt Florian, Giahis Shop-Manager. »Ehrlich gesagt, bin ich sowieso fast der einzige Schweizer hier – und noch ehrlicher, halb Holländer. In unseren Studios arbeiten Tätowierer aus der ganzen Welt, von Brasilien bis Russland, bloß kaum Schweizer.«

»Ich find‘s hier grundentspannt«, ergänzt Birte. »Zwar hat es ein paar Jahre gedauert, bis ich mich nicht mehr wie ein Trampel fühlte, weil hier alle so höflich sind – die Worte ›Scheiße‹ oder ›Mist‹ habe ich im Laden beispielsweise noch nie gehört. Aber so langsam passe ich mich an.«

Doch was hat es mit Birtes sehr deutschen Tattoos auf sich? »Mein Vater ist Förster im Westerwald«, erklärt sie. »Schorsch, der Rehbock auf meiner Brust, die Eichhörnchen Emily und Francoise auf meinem Bauch und der Auerhahn erinnern mich an meine harmonische Jugend auf dem Land. Ich fand es damals zwar nicht so prickelnd, Dasselfliegen-Maden aus dem Hals eines Rehs zu ziehen oder in Wildschweingedärmen hinter dem Haus auszurutschen, aber heute erkenne ich das als Teil meiner geborgenen Jugend.«

Und wie passt das Kettensägen-Tattoo dazu? »Same thing«, lacht Birte. »Kettensägen-Geräusche gehören für mich untrennbar zum Sommer, so wie Grillenzirpen und Froschquaken; wenn ich das höre, wird mir unglaublich wohl. Ich glaube, ich habe einen richtigen Kettensägenfetisch. Ich komme halt vom Land.«

Voila! Und so kamen eine glückliche Jugend, schweineteurer Kaffee in Zürich, ein menschlicher Schädel aus einem Aquarium, Birte, Florian, ich und das bling-blingste Tattoo-Studio der Welt zusammen.

Der Eure im Namen der tätowierten und internationalen Freundschaften –
Dr. Doom