Bachelor-Thesis / Abschlussarbeit an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburgs
von Anke Janik, Einstellungsjahrgang Herbst 2015 (Fertigstellung der Arbeit Sommer 2018)
Anke Janik: Im Rahmen der zahlreichen Kriminalfälle an denen Sie gearbeitet haben, sind Sie da bereits einmal mit Tätern in Kontakt gekommen, die Kinder sexuell missbraucht haben?
Mark Benecke: Ja, ich habe mir in solchen Fällen sowohl Gerichtsverhandlungen angesehen, war oft spurenkundlicher Sachbearbeiter für Spuren von Sexualdelikten und habe unabhängig davon mit Opfern und Tätern gesprochen. Viele Opfer, die sonst nie darüber sprechen und auch nie mit der Polizei geredet haben, spreche ich auch in Subkulturen wie der Gothic-Szene, wo zusätzlich auch seelische Vernachlässigung durch die Eltern — diese oft alkohol- und substanzabhängig — eine Rolle spielt.
Einer meiner direkten Klienten hat sehr viele Kinder aus sexuellen Motiven tot gefoltert. Er hat ganz normal mit mir geredet, wie ein zuvorkommender, freundlicher Interviewpartner. Wie jeder Mensch wollte er das eine oder andere nicht sagen oder hat es ein bisschen hingedreht ("Mir haben Stimmen eingeflüstert, das zu tun"), aber sowas ist mir meist nicht so wichtig. Er war seit einiger Zeit getauft und da passte es halt mit den "Einflüsterungen". Andere Dinge waren mir auch nicht so wichtig, beispielsweise, ob er die Hoden der Opfer jetzt wirklich in den abgeschnittenen Kopf gesteckt hat oder nicht. Dass die Ziel-Phantasie sexuell ist, zeigt sich ja schon früh, und hier auch sehr eindeutig durch die Taten. Details sind mir da, wenn nicht endlos Zeit ist, weniger wichtig, so lange die Richtung klar und eindeutig stimmt.
Mich interessiert dann eher, welche Schritte strukturell nötig waren, beispielsweise um die Kids , also die später getöteten, ohne Krawall oder Auffälligkeiten tagsüber von belebten Plätzen wegzulocken. Über sowas — für sie als antisoziale Menschen vergleichsweise "Harmloses" — reden die Täter*innen eigentlich problemlos. Manchmal sind sie vielleicht auch ein bisschen stolz auf ihre Cleverness. Oder sie erinnern sich daran, wenn es nicht geklappt hat und warum. Über solche "technischen" Dinge plaudern sie eigentlich nicht ungern, und für mich und für die Vorbeugung sind solche Struktur-Details grundlegend wichtig.
Die Festlegung dessen, was nicht annehmbarer sexueller Missbrauch ist, hat sich dabei natürlich in den letzten Monaten verändert. So kommt es, dass ich in letzter Zeit auch mit Menschen zu tun habe, die sich eher im öffentlichen Bereich aufhalten und dort — etwa im Bereich der Film-Produktion — Übergriffe erlebt haben, die früher leider mit Augenzwinkern als "Besetzungs-Couch" bezeichnet wurden. Dabei geht es um die entweder angebahnte oder auch überfallsartige Taktik ("Wir trinken nachher noch was im Hotel") oder die klare Ansage, dass eine Person ohne Sex mit dem Produzenten, Regisseur oder Finanzier eine Film-Rolle nicht erhält oder am Set schlecht behandelt werden wird.
Da ich beruflich schon immer fast nur mit Kolleginnen (mit genetischen Frauen) in Labor arbeite, habe ich früh erfahren, dass sehr viele "normale" Frauen vergleichsweise "kleinere" sexuelle Belästigungen kennen, beispielsweise sexuelle Annäherungen, teils auch mit Ejakulation bei Frotteuren, in der Straßenbahn. Als ich noch studiert hatte, wusste ich von diesen, für viele Frauen sozusagen "alltäglichen", Erfahrungen überhaupt nichts. Das haben mir nach und nach und seit nun über fünfundzwanzig Jahren hinweg Kolleginnen ganz nebenbei und unaufgeregt erzählt, während wir im selben Raum mikroskopierten oder im Büro einen Kaffee tranken.
Gelang es Ihnen mit einem solchen Täter ein Gespräch aufzubauen ?
Ja. Je länger ich meinen Job mache — ich bin ja Spurenkundler und verstehe wenig von Menschen —, umso mehr wundert es mich, dass es vielen oft schon genügt, wenn ein Täter oder eine Täterin erkannt oder "geschnappt" wird. Für mich ist die Festnahme oder Verurteilung aber nur der erste von vielen Schritten. Denn wir sollten doch etwas von den Täter*innen lernen, und dann daraus vorbeugende Maßnahmen ableiten, damit sowas möglichst nicht noch mal passiert. Diese neugierige Grundhaltung ist ein guter Weg zu einem sachlichen Gespräch.
Die Vorbeugung geht mich zwar beruflich normalerweise wenig an. Aber wenn ich bemerke, dass eine Täter-Biografie einfach zur Seite geschoben wird — in meinen Fall waren das beispielsweise Jürgen Bartsch, dessen Akten ich aus dem Staatsarchiv geholt habe, und Luis Alfredo Garavito, mit dem ich mich mehrmals getroffen habe —, obwohl die Täter ganz umfangreich ausgesagt und Briefe geschrieben haben und sogar kriminalistische Spuren vorhanden sind, dann juckt es mich einfach, meinen winzigen Beitrag zu leisten. Das ist also der Grund, warum ich mit den Täter*innen rede: Damit andere Vorbeugungs-Programme entwickeln können. Ein weiterer Grund ist, dass ich seltsame Spuren am Tatort verstehen möchte, aber darum soll es hier jetzt nicht gehen.
Kurz gesagt, ich bin ehrlich interessiert an den Tätern und Taten, und ich denke, dass diese Stimmung dann ein Gespräch in Gang bringen kann.
Aus welchem Grund sprachen Sie mit dem Täter und wie erlebten Sie ihn ?
Die Gesprächsgründe und -abläufe sind wirklich ganz einfach: Ich gehe offen und neugierig in das Gespräch (oder zunächst die Akte) und mache ein Interview, so wie ich schon tausende Interviews zu allen möglichen Themen gemacht habe: Kurze Fragen, keine emotionalen Ausschweifungen, offensichtliche Widersprüche sofort ansprechen, ein Gefühl für das Gegenüber kriegen, einfach mal sehen, was sich so ergibt.
Ich bin auch nicht schlauer als alle anderen, auch nicht als die Täter*innen. Wir tauschen uns aus, aber die Fragen stelle dabei ich meist aus der Situation heraus, ohne Vorbereitung des Gesprächsfadens.
Was ich dann erlebe, ist immer dasselbe: Die meisten — nennen wir sie ruhig so — Interviewpartner sagen entweder ganz gerade, was sie denken und wie sie wann wo gehandelt haben. Meist wissen sie nicht so gut, was sie fühlen... das ist ein zu weites Feld, besonders für früh gestörte Menschen, die ihr Gefühle oft zu stark oder zu wenig kontrollieren. Aber mir geht es ja eh eher um die handfesteren Spuren: Zeiten, Abläufe, Techniken, Blut, Haare, Sperma, Schnittstellen an Knochen, Dellen an Fensterrahmen. Die Täter sind dabei bisher immer ruhig und freundlich gewesen, meist sogar ein bisschen neugierig, weil sie natürlich manchmal gerne rauskriegen würden, was genau ich warum wissen will.
Es gibt auch welche, die lügen und verdrehen und drucksen, aber das macht eigentlich auch nichts. Aus den Lügen, also deren Art und vor allem der Art der Widersprüche, kann ich auch was lernen. Ich bin kein Ermittler und muss bei den Gesprächen — anders als bei Mikrospuren-Untersuchungen — nicht für eine gerichtliche Bearbeitung arbeiten. Psychologe bin ich auch nicht, erst recht kein Therapeut. Ich mache die kriminalistische Hintergrund-Arbeit, eigentlich die Aufräum-Arbeit, eben den Abgleich des Gesagten mit den Spuren.
Das Gespräch ist daher entspannt, auch wenn es mich oft viel Zeit und Geld kostet. Ich mache es aber sehr gerne, denn wie gesagt, ohne durch Spuren prüfbare Ablauf-Beschreibungen wäre das Ganze nur ein Räuber- und Gendarm-Spiel, keine Vorbeugungshilfe. Mich interessiert aber vor allem die Vorbeugung.
Täter, die keine Lust auf Gespräche haben, lasse ich in Ruhe. Ich wende auch niemals Taktiken an. Ich kann mich eh nicht verstellen. Meine Kollegen aus den USA (ich habe früher in New York gearbeitet) haben immer zu mir gesagt: "Das sind doch keine Menschen, die kannst du verarschen, lüg sie an, führ sie hinters Licht!" Ich habe das noch nie so gesehen und denke auch heute noch, dass Taktieren vielleicht bei Ermittlungen was bringt, wenn du ein Geständnis brauchst, aber nicht bei der Spuren-Arbeit.
Ich möchte ja kein Geständnis, sondern die nebensächlichen Details verstehen, und die kommen nur bei einer entspannten, offenen Gesprächs-Atmosphäre raus: Warum lagen da immer Schnapsflaschen-Deckel nahe der Leichen? (Weil er halt gesoffen hat.) Warum beharren Sie felsenfest darauf, dass die Kondome nicht von Ihnen sind? (Weil sie von jemand anderem waren, der nichts mit der Tat zu tun hatte.) Warum haben sie keine Wertsachen mitgenommen, sondern nur Krimskrams? (Weil es nur um möglichst unauffällige Trophäen ging.) Warum wollen sie von mir lieber eine Wissens-Zeitschrift als ein Rätselheft oder Pornos haben? (Weil er nie in die Schule gehen dufte, es aber gerne wollte.)
Grundsätzlich rede ich nur mit Täterinnen und Tätern, die mich ansprechen (ich bin öfter im Knast) oder ich frage sie, ob sie Interesse an einem Gespräch haben. Das geht natürlich nur, wenn es nicht mit meiner Sachverständigenarbeit kollidiert. Ich mache keine strategischen oder erzwungenen Sachen.
Gibt es Ihrer Meinung nach eine oder mehrere Taktiken, die zur Vernehmung von Verdächtigen des sexuellen Missbrauchs bei Kindern geeignet sind?
Ich wende keine Taktiken an und interessiere mich dafür auch nicht. Mir geht es darum, die Spuren zu verstehen. Wenn diese dann mit den sichtbaren "Ergebnissen" der Tat am Tatort zusammenpassen, dann weiß ich, was ich wissen will: Ob der Ablauf korrekt bekannt ist oder nicht.
Danach können wir alle gemeinsam überlegen, was bei dem Täter oder der Täterin, bei der Ermittlung, in der Gesellschaft oder beim Opfer-Verhalten so gelaufen ist, dass die Tat nun vermeidbar ist.
Ich sehe keine "Logik" in Vernehmungstaktiken, so wie ich überhaupt keine Logik in jeder Art von Taktik sehe. Die Täter*innen sind die Experten, ich will etwas von ihnen lernen. Entweder wir kommen da auf einen Nenner oder nicht. Es hängt einfach davon ab, ob die "Chemie stimmt". Alles andere ist mir zu anstrengend.
Meinen Sie, dass es überhaupt geeignete Taktiken zur Vernehmung von Tatverdächtigen des sexuellen Missbrauchs bei Kindern gibt?
Das hängt von Deinen Zielen ab. Polizeilich muss es vor allem beweisfest sein. Das blöde ist, dass viele Täter*innen wissen, dass sie als "Kifis" im Knast nichts als Ärger haben werden und sich dort auch niemand dafür interessiert, dass sie ja "nur" Fotos und Videos runter geladen, aber selbst "nichts gemacht" haben.
Selbst, wenn die Täterin oder der Täter das alles nicht weiß, dann kann es sein, dass sie oder er sich schämt und einfach nicht will, dass die eigene Familie mitkriegt, dass ein "Kifi" in der Verwandtschaft ist. Dieses Brett müsst Ihr dann polizeilich natürlich so bohren, dass etwas Verwertbares dabei rauskommt. Ich vertraue hingegen auf Spuren und lege diese als nicht "weglaberbare" Basis meines Gespräches an. Ob das für Euch im Einzelfall sinnvoll ist, kann ich nicht sagen.
Eine andere Hürde ist, dass gerade bei den ganz harten Täterinnen und Tätern oft eine wirklich beschissene Kindheits-Geschichte dahinter steckt. Manchmal, besonders bei Psychopath*innen, ist deren Erziehungs- oder Umwelt-Problem im Vergleich zu anderen schweren Kindheiten ohne Täterwerdung schwer bis gar nicht erkennbar (Bartsch, Bundy, Dahmer...), aber oft genug halt eben doch.
Ich selbst klammere das daher einfach vollkommen aus, akzeptiere aber auch die schrecklichsten Schilderung von Schlägen, Vergewaltigung, Vernachlässigung und Verrohung. Das finden viele Täter*innen angenehm und beruhigend, weil sie mit moralisierenderen Menschen ungern drüber reden beziehungsweise gelernt haben, dass das Gegenüber, auch ohne moralische Einwände, mit grauenhaften Schilderungen oft überfordert ist. Mir kannst du hingegen alles erzählen; ich nehme es hin, lasse mich aber nicht in eine Richtung lenken — etwas die Kindheit —, sondern frage immer wieder nach den messbaren Tatort-Spuren.
Vielleicht ist das eine Anregung auch für Euch, besonders, wenn Ihr sehr traurig und wütend über eine Tat seid, beispielsweise über einen Täter, der ein Kind vergewaltigt hat, welches im selben Alter ist wie euer eigenes Kind.
Eine weitere Möglichkeit, die ihr zwar nur eingeschränkt, aber vielleicht noch als "Zeug*innen-Befragung" durchführen könnt, ist es, mit Geschwistern oder Ehepartnern der Täter*innen zu reden. Ich war verblüfft, wie oft sich hier zeigte, dass der Täter oder die Täterin eine unfassbar wirkende Geschichte über jahrelangen Missbrauch durch die eigenen Eltern oder Nachbarn oder Verwandte nicht weinerlich übertrieben hatte, sondern es auch aus der Sicht der anderen so abgelaufen war.
Der Vorteil daran ist, dass ihr euch dann viel sicherer sein könnt, ob ihr gerade mit Bullshit abgelenkt werdet oder offen und ehrlich sagen könnt: "Ich glaube Ihnen, dass das so passiert ist, das ändert aber nichts an der Tat." Gerade für seelisch vernachlässigte Menschen kann das eine verbindende Erfahrung sein — sie werden endlich mal ernst genommen.
Was ich euch nicht sagen muss, aber zur Sicherheit doch sage: Auf keinen Fall können wir irgend etwas therapeutisches bewirken oder gar versuchen, auf diesem rein spurenkundlichen, offenen, "freien" Gesprächs-Weg den Täter festzunageln. Das wäre so, als ob ich eine defekte Auto-Blinker-Elektronik reparieren wollte, aber noch nie ein Auto gefahren bin. (Das ist beispielsweise bei mir so: Ich verstehe nichts von Autos und überlassen deren Kauf und Reparatur Menschen, die sich dafür interessieren und damit auskennen. Daher bleibe ich auch bei Täter*innen-Gesprächen bei den Spuren und gebe keine Therapie-Tipps oder -Techniken.)
Wie gelingt es dem Ermittler den Beschuldigten zum wahrheitsgemäßen Aussagen zu bewegen?
Meiner Meinung nach durch den Abgleich mit den messbaren Spuren, also Fasern, Blut, Haare, Sperma, Lack, Insekten und so weiter. Es geht auch über räumlich-zeitliche Ermittlungen, also beispielsweise Handy-Massendaten, Geodaten und vieles mehr.
Wenn es polizeilich sinnvoll ist, würde ich der Täterin oder dem Täter durchaus vorhalten, was bekannt ist, aber das ist eine Einzelfall-Entscheidung, weil Ihr ja an andere Regeln und Abläufe gebunden seid als ich. Praktisches Beispiel: Wir hatten mal einen jungen Täter, der seine tote Freundin in seinem Bettkasten aufbewahrt hat. Als er sich sicher fühlte, hat er die Leiche in den Wald gebracht.
Ich habe mit viel Freude und Akribie alle Insekten von der Leiche abgesammelt und mehr gemacht, als für die Liegezeit-Bestimmung nötig war, weil ich biologische Nahrungs-Netze einfach sehr spannend finde. Ich habe Löcher in der Leiche fotografiert, die Insekten natürlich auch, die Fäulnis beschrieben und sowas eben. Später hat sich herausgestellt, dass einer der Polizisten, die den Jungen befragt haben, ihn mit der detailreichen Schilderung des Zustandes der Leiche seiner toten, verwesten Freundin schwer beeindruckt hatten. Das hat vielleicht mit dazu beigetragen, dass er dann gestanden hat. Ich war bei der polizeilichen Befragung nicht dabei (bin ich nie), aber hier seht ihr, dass Spuren auch ohne Fakten-Abgleich manchmal eindrucksvoll sind. Umso mehr gilt das natürlich, wenn wir aus Blutspuren einen genauen Bewegungs-Ablauf rekonstruieren und diesen dann der Polizei mitteilen. Das macht es bei der Befragung dann viel, viel leichter, Ausreden und Nonsens in der Aussage zu erkennen — und auf Wunsch auch anzusprechen.
— Vielen Dank an alle Beteiligten für die Erlaubnis zum Abdruck. —
Weitere Informationen hier:
http://benecke.com/pdf/serial_killer_bartsch_mark_benecke.pdf
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