Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences (AAFS)

Quelle: Rechtsmedizin 2: 6-7, 2009.
Jahrestagung der American Academy of Forensic Sciences (AAFS)
Denver, Colorado, 13.–21.02. 2009

VON MARK BENECKE

Angesichts des weltweit wohl umfangreichsten, über neun Tage gestreckten Programms folgt hier nur eine schlaglichtartige Darstellung des Kongresses.

Rechtsmedizinerin Anny Sauvageau, Leiterin der 2006 beim Annual Meeting der AAFS in Seattle gegründeten “Working Group on Asphyxia”, berichtete nach Vorführung und Auswertung von acht Videos mit Selbsterhängungen, dass anders als es alle Veröffentlichungen bislang darstellen, zunächst Ausfälle von Stammhirnfunktionen (am Strecken aller Extremitäten deutlich zu erkennen) und erst dann der Ausfall der Großhirnfunktion (erkennbar am Anwinkeln der Glieder in zwei Phasen, einer schnellen, danach einer langsamen) erfolgen. Wichtige differenzialdiagnostische Nebenbefunde nach Vergleich tausender Erhängungen war zudem, dass (a) bei Suiziden und autoerotischen Unfällen nie der Ringknorpel gebrochen war und (b) die bekannten Schürf-Verletzungen durch agonale Flexion der Extremitäten fast ausschließlich an den Schienbeinen und der Rückseite des rechten Armes anzutreffen waren.

In einem weiteren Workshop räumten der Leiter der Einheit für Serienmorde (FBI Behavioral Analysis Unit 2), Mark Hilts sowie sein Kollegen Robert Drew und Bob Morton komplett mit Stereotypen über Serientäter auf: Weder gehören sie bevorzugt zu einer Ethnie oder Altersgruppe noch töten sie immer weiter oder bleiben bei einer Tatbegehungs- bzw. ritualartigen Art der Veränderung des Tatortes. Die einzigen deutlich vorhandenen Tendenzen unter Serienmördern sind, dass bei ihnen im Vergleich zu allen anderen Mördern gehäuft Asphyxie (40-50 Prozent der Fälle) eine Rolle spielt und weibliche Opfer gewählt werden, in der Hälfe der Fälle Sperma angetroffen wird und nur ein Drittel der Opfer vollständig entkleidet sind. Ein Drittel der Täter sind langfristig “glücklich” verheiratet, die Hälfte der Opfer sind Prostituierte.

Der forensische Psychiater Louis Schlesinger berichtete, dass die bekannte Unterscheidung von “organisierten” versus “unorganisierten” Serientätern nichts anderes als deren oft vorhandene psychischen Auffälligkeiten wie Narzissmus, Schizophrenie (mit paranoiden Zügen) oder Psychopathie (= organisiert) im Gegensatz zu Schizoiden, Borderlinern und Schizophrenen (= desorganisiert) widerspiegelt.

Ein interessantes Projekt des FBI beschäftigt sich derzeit mit der Frage, ob man die etwa vierhundert unindentifizierten Leichen, die in den letzten Jahren an Interstate Routes in den USA angetroffen werden, zu bereits verurteilten Sexualtraftätern, die vor Verurteilung Berufskraftfahrer waren, geografisch zugeordnet werden können.

In den danach folgenden Tagen dominierten die Kurzvorträge, deren Qualität – außer im Bereich forensische Anthropologie, wo es zu zahlreichen “Neuerfindungen des Rades” (so Bill Rodriguez) kam – deutlich zugenommen hat. Herausragend war, dass der gesamte Freitag in der wichtigen Session “Pathology/Biology” der Forensischen Entomologie, unter anderem mit zahlreichen Beiträgen aus dem Labor von Jeff Tomberlin aus Texas (und von deutscher Seite einem Beitrag von Heike Klotzbach), gestaltet wurde. Eine derartige Schwerpunktsetzung gab es bisher nur einmal: beim Kongress in Iguazu Falls im Jahr 2000 (Rechtsmed 10(6):R25). Tomberlins Insekten-Labor bemüht sich derzeit intensiv darum, die Nomenklatur zu vereinheitlichen und durch systematisch variierte Experimente besonders die bislang kaum untersuchten Vorgänge zwischen Todeseintritt und der Eiablage zu klären.

Sarah van Laerhoven aus Kanada berichtete über den Fall der zwölfjährigen Lynne Harper aus dem Jahr 1959, der damals mit einem (nicht vollzogenen) Todesurteil gegen den angeblichen Täter Truscott geendet hatte. In der Folge der Nachuntersuchung des Falles mit Experimenten van Larhovens am echten Fundort mit Schweine-Leichen und unter Einbeziehung der noch vorhandenen Informationen zum Insekten-Status der Leiche wurde der Angeklagte nun – mehr als fünfzig Jahre später – freigesprochen und mit mehreren Millionen Dollar zumindest finanziell entschädigt.

In anderen Themen-Sessions ragte unter anderem der Vortrag der Studentin Lyndsie Schanz heraus, die mit ihrer gesamten Universitäts-Klasse einen pathologisch lügenden Serientäter mit Briefen und später per Telefon interviewte und dabei nicht nur eine der bei Serientaten leider so häufigen Fehl-Verurteilungen Unschuldiger (falsches Geständnis), sondern auch eine komplette, objektive Überprüfung aller Aussagen des Täters bewerkstelligte. Dabei kam ein neuer Fall zum Vorschein, der jetzt neu verhandelt wird und mit einiger Wahrscheinlichkeit mit der Hinrichtung des bislang “nur” zu lebenslager Haft verurteilten Täters enden wird.

John de Haan demonstierte anhand von Verbrennungsexperimenten mit menschlichen Leichen (Körperspendern), dass bei Bränden im Bett, ausgelöst beispielsweise durch Zigaretten, problemlos Temperaturen entstehen, die über denen in Krematorien liegen können. In einer über sechzehnstündigen Detail-Analyse von Flamm-Verläufen konnte er zudem eindrucksvoll den so genannten Docht-Effekt darstellen, der darauf beruht, dass das subkutane Fett der brennenden Leiche darüber liegende Textil-Schichten wie einen Docht füllt und den Brand – teils mit sehr großen, teils mit sehr kleinen Flämmchen – so lange aufrecht erhalten kann, bis die Leiche auch ohne jede brandbeschleunigende Substanz nahezu verascht.

In der “Bring Your Own- Slides”-Session mit Michael Baden, dem bekanntesten Rechtsmediziner der USA, lag erstmals einer der Schwerpunkte auf der Ermittlung von Daten aus elektronischen Geräten und der sehr präzisen und beweiskräftigen Verfolgung von Schmugglern anhand ihrer eigenen GPS-Geräte. Der ungewöhnlichste Fall aus dem Bereich Rechtsmedizin (Forensic Pathology) war der eines Projektils, das im unverletzten Blinddarm einer Leiche angetroffen wurde. Es stammte zwar vom Tötungsdelikt, war aber nach einem Kopfschuss in der (längeren) Überlebenszeit des Opfers von diesem zufällig verschluckt und bis in den Darm transportiert worden. Nur nach mehrfachem Röntgen wurde das Projektil schließlich autoptisch lokalisiert, da die Denkbarriere (unverletzt = projektilfrei) das Öffnen des Darmes zunächst unnötig erscheinen ließ.

Wie immer fanden die Frühstückstreffen der AAFS schon um sieben Uhr morgens statt, unter anderem mit der eindrucksvollen Darstellung eines Falles von Vernon Geberth, in dem sich ein Mann unter dem Einfluss von PCP alle Teile des Gesichtes samt Augen in Stücken und über Stunden hinweg abgeschnitten, seinen Hunden verfüttert und dies langfristig überlebt hatte (Nase, Lippen usw. wurden im Magen seiner Hunde gefunden). Ein anderer Frühstücks-Fall beschäftige sich mit dem Kannibalen “Alferd” (Alfred) Packer, der in den Bergen Colorados mit einer Gruppe, die er führte, eingeschneit war und sie zum Großteil aufaß. Heute ist die Mensa der örtlichen Universität offiziell nach ihm benannt.

Der Autor nutzte zusammen mit einer Psychologin die geographische Gelegenheit, den unweit von Denver gelegenen Ort des Schul-Attentates von Littleton zu besichtigen. Wie in ähnlich gelagerten Fällen ist die offensichtliste Reaktion vor Ort in einer Art “Undoing” die Rückbesinnung auf vermeintlich gute, alte – hier natürlich U.S.-amerikanischer – Werte wie das Nähen von Quilts, gründerzeitlicher Kutschfahrten, Landschaften und gemeinsamer Unternehmungen mit der Familie. Es bleibt ein sehr ungutes Gefühl, zu erkennen, dass offenbar noch viel Trauer- und Sozial-Arbeit notwendig ist, um sich der Massen-Tötung inhaltlich besser zu nähern.

Erstaunlich war, dass die aktuelle wirtschaftliche Schieflage in den USA tatsächlich zu mehreren Rednerausfällen führte. Andererseits ist Denver mit einem der größten Kongress-Zentren, die der Autor jemals gesehen hat, und einer funktionierenden Innenstadt-Infrastruktur (Gratis-Busse, Post, Informations-Stellen) eine sehr gute Wahl für Kongresse der AAFS, die zurecht entschieden hat, nur noch eine begrenzte Zahl bewährter Städte für die Kongress-Rotation zuzulassen. Zusammen mit der breiten und gut vorsortierten Themen-Auswahl und der wie immer riesengroßen “Industrie”-Ausstellung (bei der allerdings auch der Geheimdienst C.I.A. einen Stand hatte, der Frisbees verteilte) setzte der Kongress Maßstäbe, die sich international wohl nur in den unermüdlich fleißigen, streng multidisziplinär  und um ständige Erneuerung bemühten USA umsetzen lassen.


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