2014 08 Stadtgeflüster Münster Fachmann für Wahnsinn

Quelle: Stadtgeflüster Münster, Ausgabe 09/2014, Seiten 28 bis 35

Fachmann für Wahnsinn

[Hier gibt's das Interview als PDF]
Von Dennis Kunert


1.) Mache niemals Annahmen.
2.) Egal wie nebensächlich etwas ist, alles ist wichtig. Und
3.) Schließe aus, was nicht sein kann.

Diese drei Prinzipien bilden die Grundlage seiner weltweiten Ermittlungen gegen das Verbrechen. Und die Rede ist nicht von Sherlock Holmes, der diese Regeln begründete, sondern von Mark Benecke – seines Zeichens Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie. Ob Serienmörder, die Mumien von Palermo oder Hitlers Schädel: Mark geht unvoreingenommen an jede Untersuchung und ist damit noch längst nicht ausgelastet: Er ist auch Dudeist, Donaldist, Sherlockianer, Skeptiker, Politiker und ein ... FACHMANN FÜR WAHNSINN


Ich möchte mit dir gerne über schräge Dinge sprechen und habe deshalb die neue 'In Touch' mitgebracht.
Oh ja, zeig doch mal.

Das ist allerdings nicht meine, sondern die unserer Fotografin.
Aber du darfst die auch lesen?

Ja, ich muss doch wissen, warum Britney Spears so dick geworden ist.
Sie hat auf jeden Fall zugenommen. Das muss man objektiv feststellen. ... Wow, sie hat wirklich zugenommen!

Ist das nicht eher ein Zeichen, dass es ihr gut geht?
Noch lustiger war, als sie von Betäubungsmitteln zugedröhnt auf die Bühne getorkelt ist. Das war mal eine Ansage! (Lacht)

Darin ist auch ein Bericht, dass man sich Widerhaken-Pflaster auf die Zunge nähen kann, um abzunehmen.
Ohne Scheiß? Geil!

Dadurch wird essen so schmerzhaft, dass man es lässt.
Wer’s glaubt, wird selig. Dann nehmen diejenigen mehr energiehaltige Drinks zu sich. Das machen auch viele nach Magenverkleinerungen: zum Beispiel ein Glas Nutella in die Mikrowelle und rein damit.

Igitt!
Egal wie verkleinert dein Magen ist, solange du möglichst energiehaltiges Zeug durchlaufen lässt ... Hier sind Miley Cyrus und Boris Becker – sind das die heutigen Prominenten? Haben die euch auch schon Interviews gegeben?

Leider nein.
Na toll!

Du hast eben mit deiner Assistentin Akten aus dem Keller hochgetragen. Was ist gerade das Spannendste an eurem aktuellen Fall?
(Ruft) Tinaaaa? Was ist gerade das Spannendste an unserem aktuellen Fall?! (Tina betritt den Raum.) Der Fall mit der Erhängung: Was ist gerade daran spannend und warum bearbeitest du so etwas gerne?
Tina: Jeder Fall hat eine eigenständige Fragestellung – das finde ich interessant.
Genau, jeder Fall ist anders und wir können uns immer neue Experimente ausdenken.

Mit Experimenten meinst du labortechnische Überprüfungen?
Richtig. Wir überprüfen, was der Richter, der Staatsanwalt, die Angehörigen, der Knacki oder wer auch immer glaubt.
Tina: Mark findet es beispielsweise sehr interessant, wenn Leute psychisch gestört sind. Das interessiert mich nicht so.
Tina meint „psychisch verändert“. Aber das stimmt. Ich war gerade bei einer interessanten Psychose-Tagung: Da hat eine Kollegin Suizidbriefe vorgelesen und alle Zuhörer waren stark berührt, während es mich ziemlich kaltgelassen hat.

Wie kann dich so etwas nicht berühren?
Das ist genau der Punkt. Deshalb habe ich gerade einen Psychoanalytiker angeschrieben, der andere Psychoanalytiker coacht. Ich würde gerne mal mit ihm reden, denn ich möchte durch mein Verhalten keine Angehörigen retraumatisieren.

Ähneln sich Abschiedsbriefe nicht?
Nee, überhaupt nicht. Gerade für die Angehörigen sind diese Briefe sehr individuell – persönlicher wird es nicht. Aber ich muss halt Fragen stellen, wie: „Woher wissen Sie, dass das Bein da lag? Es war doch dunkel.“ Seit der Tagung bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher, ob ich da taktvoll genug bin.

Musst du denn solche Fragen stellen?
Klar, ich will den Fall ja sachlich und objektiv untersuchen.

Arbeitest du freiberuflich oder gehörst du zum Staat?
Na, wir gehören doch alle als gute Bürger zum Staat. Oder sagen wir als Bürger. (Lacht) Ich bin öffentlich bestellt und vereidigt. Das heißt, du bekommst ein Glas schlechten Sekt und musst schwören, dass du dich von jedem Menschen beauftragen lässt – und das ist auch gut so.

Wie ist das Auftragsverhältnis? Mehr privat oder mehr staatlich?
Es sind tendenziell mehr Privataufträge, die der Überprüfung von bereits staatlich bearbeiteten Aufträgen dienen. Allerdings kann man dann auch wieder in Berührung mit den staatlichen Stellen kommen. Dennoch: Wir arbeiten nicht für eine Seite, sondern nur für die Wahrheit. Mich interessiert also nicht, wer mich beauftragt.

Aber es muss doch jemand den Gehaltsscheck unterschreiben.
Richtig, das ist die einzige Frage, denn wer den Auftrag erteilt, der muss auch die Kosten tragen.

Gibt es viele freiberufliche Kriminalbiologen?
Ein paar sicherlich. Wir unterscheiden uns von denen in zwei Punkten: Wir testen immer neue Methoden .

... die ihr selber entwickelt habt?
Entweder das oder wir haben die beispielsweise auf Kongressen gesehen. Neue Methoden haben uns schon sehr geholfen. Wir arbeiten zum Beispiel mit einer tragbaren Hochintensiv-UV-Lampe, die echt super ist. Tina kam auch mal mit so einem Silikonzeugs an, damit kannst du wirklich jede Oberfläche – egal was – abformen. Total geil!

Und der zweite Punkt?
Die Auftraggeber können beliebig häufig mit uns sprechen, wenn sie das wollen.

Und das ist etwas Besonderes?
Insofern, dass es uns nicht an die Nieren geht, wenn schlimme Dinge detailliert berichtet werden. Aber diese Schilderungen sind auch wichtig, da sie relevante Informationen enthalten können.

Hast du ein Beispiel?
Es gab einen Fall, in dem ein Junge verschwunden war. Die Polizei ging davon aus, dass er mit seiner Freundin durchgebrannt sei. Seine Mutter glaubte das aber nicht. Natürlich kann man behaupten, dass der Sohn seinen Eltern solche Pläne schließlich auch als Letztes erzählen würde, aber sie konnte ihre Meinung nachvollziehbar begründen. Nun sagten wir ihr, wenn sie Recht hätte, würde es auch bedeuten, dass ihr Sohn an einem bestimmten Ort getötet worden sein muss – und somit muss es Spuren geben. Da ist den Angehörigen ein Licht aufgegangen, sie sind zu dem betreffenden Ort gefahren, haben sich umgeschaut.

Jetzt bin ich gespannt.
Die Mutter kam zu uns zurück und hat gesagt, dass sie rote Flecken gefunden hätte. Es stellte sich heraus, dass es das Blut ihres toten Jungen war. Auf die Idee wären wir aber gar nicht gekommen, wenn wir die Meinung der Mutter ignoriert hätten.

Und derartige Gespräche werden von der Polizei nicht geführt?
Doch, aber die Polizei hört nicht immer gut zu, weil sie natürlich auch oft angelogen wird und Angehörigen aus Erfahrung misstraut. In diesem Fall hat die Behörde gesagt: „Die Frau spinnt!“

Um auf deine Laborarbeit zurückzukommen: Ist es der kindliche Spaß am Ausprobieren?
Die Freude am Experimentieren darf nie verlorengehen. Sicherlich kann man Leute für ein paar Tage motivieren, mitzumachen, aber dann vergeht ihnen erfahrungsgemäß irgendwann die Lust. Wir putzen ja auch endlos viel. Diesen Raum hier haben wir für einen Kurs einmal komplett unter Blut gesetzt.

Den möblierten Raum?
Ja genau! Das Saubermachen war die Hölle! Selbst wenn die Leute gerne spielen – hinterher putzen will niemand! (Lacht)

Empfängst du in diesem Raum auch deine Kunden?
Ich bin selbst Sherlockianer – kenne mich also gut mit den Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle aus – und darf deshalb vielleicht auch sagen: Es ist bei mir wirklich wie bei Sherlock Holmes, der seine Klienten manchmal wirklich hier empfängt, mit all ihren schrägen und verrückten Fällen.

Ich frag nur, weil der Raum schon sehr speziell ist: Da stehen eine Drachenlampe und eine Marienstatue auf dem Schreibtisch.
Das ist die heilige Rita!

Oh!
Ja, ja!

Ich hab nicht so genau hingeschaut.
Das kann man auch nicht wissen. Du kannst sie nur am Kreuz, dem Stirn-Stigma und der Rose erkennen. Sie ist die Schutzheilige bei aussichtslosen Anliegen ... und Pocken.

Jedenfalls, wenn deine Klienten den Raum betreten, schauen die dann verwundert?
Wenn du dein verfaultes Kind aus einem Teich gezogen hast oder dein Onkel verspeist wurde, dann hast du echt andere Probleme, als ob hier eine komische Tischdecke liegt. Die hier habe ich übrigens neulich am Reichenbachfall gefunden. Womit wir wieder bei Holmes wären.

Du sagtest mal, dass du zwölf Stunden am Tag arbeitest ...
Ja, oder wurschtel.

Was ist für dich Arbeit und was ist Wurschteln?
Das ist alles dasselbe.

Ich könnte dich auch „Dr. Doom, der dudeistische Donaldist“ nennen.
Wenn du gerne alliterierst ...

Ich wollte damit eher betonen, was du so wurschtelst: Dudeismus, Donaldismus, Subkulturen ... Kannst du das genauer erklären?
Der Donaldismus ist die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem fiktiven Entenhausen und seinen Bewohnern; der Dudeismus beschäftigt sich weitgehend mit der Philosophie des Films „The Big Lebowski“. Für mich ist es gleich, ob ich mich mit einem Kriminalfall oder einer donaldistischen Fragestellung beschäftige – ich sehe da keinen Unterschied. Außer vielleicht in der Frage der Prioritäten. Von der Ernsthaftigkeit ist es aber gleich.

Wie kann die Beschäftigung mit Entenhausen genauso ernsthaft sein wie ein Mord?
Du kannst an allen schrägen Dingen üben, nicht in der Kiste zu denken. Die meisten Menschen – auch Sachverständige – haben nämlich genau dieses Problem. Für mich sind es Möglichkeiten, um wahrzunehmen, wie viel Wahnsinn in der Welt ist.

Wahnsinn?
Ein normaler Mensch würde vielleicht sagen: „Es passiert irgendwo mal etwas Verrücktes: Irgendwo herrscht ein Krieg und woanders geht mal ein Schiff unter – aber das macht nicht die Welt aus.“ Das stimmt so aber nicht. Es passieren die ganze Zeit über extrem schräge Sachen, die zwar nicht katastrophal sein müssen, aber die man auch nicht für möglich hält und deshalb gar nicht wahrnimmt.

Kapiere ich immer noch nicht ...
Es ist genau wie in dem Film „Matrix“: Es existieren eine Matrix und eine Nicht-Matrix. Die meisten von uns leben in der Matrix, doch kann man diese durch wissenschaftliche Methodik problemlos verlassen – und da herrscht besagter Wahnsinn.

Und was erwartet mich, wenn ich meine geliebte Matrix verlasse?
Dann weht dir ein irrsinniger Sturm um die Ohren, das Höllenfeuer oder wie immer du es nennen willst.

Ach du je!
Das Irre daran ist aber, dass es gar nicht schlimm ist! Die Menschen wollen es nur nicht sehen, weil es sie Energie kostet. Ich mache es und kann abends trotzdem gut schlafen. Es ist nur so, dass es vernünftig und normal ist, diese extrem räumlich, zeitlich, kulturell und sozial verbogenen Zusammenhänge nicht wahrzunehmen. Dennoch existieren sie.

Aber die Menschen entwickeln sich doch beständig weiter, werden sie nicht zwangsläufig irgendwann ihre Matrix verlassen?
Nee, das wird nie passieren.

Wie kannst du dir da sicher sein? Die Gesellschaft ist heute schließlich viel offener als früher?
In reichen Gesellschaften wie Skandinavien oder der Schweiz kommt man sicherlich näher an ein humanistisches Weltbild – aber das war’s auch. Ein Beispiel: Ich bin häufiger in Kolumbien und Peru. Die Menschen sind dort total homophob, obwohl es ansonsten absolut tolerante und fröhliche Leute sind. Die Homophobie wird dort dennoch nie nachlassen.

Aber woran liegt das?
Das hängt sicherlich davon ab, wie viel positiven Kontakt du mit abweichenden Menschen hast. Vor fünfundzwanzig Jahren wärst du mit deinem Bart in Köln noch als „schwules Bärchen“ bezeichnet worden – auch wegen der Körperstatur.

(Lacht) Danke!
Aufgrund der bärtigen Hipster würde man dich heute eher als „einen jungen Medienschaffenden“ bezeichnen. Dabei ist das eine nicht intoleranter als das andere.

Apropos Toleranz. Du hörst doch sicherlich oft diese Frage: Wie hältst du deinen Job aus?
Das musst du vorher können – das kann man nicht lernen. Wenn wir die Studenten fragen, warum sie den Beruf lernen möchten, kommt oft als Antwort: „Weil es mich interessiert.“

Das ist falsch?
Das ist gar keine Antwort, denn Gemüsehändler zu sein ist ja auch interessant. Wenn keine vernünftige Antwort kommt, fliegen sie raus – dadurch haben wir schon eine 90%ige Ausfallquote.

Dann bleiben ja nicht mehr viel.
Es geht noch weiter, denn es gibt noch die Studenten, die testen wollen, wieviel sie aushalten. Die können auch direkt gehen, denn was ist das bitte für eine Scheiße? Da haben wir keine Zeit für! Sollen die doch Geisterbahn fahren! Nur ein minimaler Teil versteht, dass die Spuren für einen Kriminalfall wie ein Fundament für ein Hochhaus sind. Ich untersuche den Mageninhalt der verwesten Leiche nicht, weil es cool ist oder ich mich erproben will, sondern ich will das für mich auseinanderpuzzeln: Was ist Bohne, was ist Fett, was ist Käse.

Du hast auch – als einer von nur wenigen Experten – Adolf Hitlers Schädel in Moskau untersucht. Was gibt es dazu zu sagen?
Hitler ist tot, seine Zähne waren schlecht und in seinem Schädel ist ein Loch.

Auf deinen Vorträgen gibst du den Zuschauern eine Themenliste, aus der gewählt werden kann. Aber kaum jemand fragt nach dem Schädel. Woran liegt das?
Ich denke, dass die Leute sich nicht „outen“ wollen.

Aber wenn mich das interessiert, bin ich doch nicht direkt ein verkappter Nazi?
Du glaubst gar nicht, wie sozial angepasst die Menschen sind. Die Zuschauer machen sich viel zu viele Gedanken, was ihre Sitznachbarn über sie denken könnten.

Bei einem sehr kleinen Zuschauerkreis würden also mehr Leute danach fragen?
Klar, das merkst du auch an etwas anderem: Wenn ich die Themen auf der Liste nicht näher ausführe. Dann steht da „plötzliche Selbstverbrennung“, „Alien-Autopsie“ oder „Insekten auf Leichen“ und irgendwas wird gewählt. Sage ich aber, dass bei der „Alien-Autopsie“ sehr viel Blut fließt und bei „Insekten auf Leichen“ viel Fäulnis zu sehen ist, werden die Themen nicht genommen. Der Sitznachbar könnte ja denken, man stehe auf Blut und Fäulnis. Soziale Anpassung ist die stärkste Determinante auf dem Planeten Erde.

Definieren wir uns also durch andere?
Ja, wir machen uns sehr stark von der Meinung anderer abhängig – aller- dings im vorauseilenden Gehorsam. Dabei gäbe es keine Konsequenzen, den nicht einzuhalten. Ich werde nie verstehen, dass man Menschen nicht ermutigt, weniger angepasst zu sein – in einem Maße natürlich, in dem es niemandem schadet.

Daher hast du vermutlich so viele Fotos als Vampir von dir.
Vampire sind ein super Thema, denn da fließt wirklich jeder Wissenschaftsbereich zusammen, den es gibt: Musik, Architektur ...

Bist du deshalb Präsident der deutschen Sektion der transsilvanischen Dracula-Gesellschaft?
Ich bin Präsident, weil der alte gestorben ist. (Lacht)

Okay, ich frag anders: Was macht man in der Dracula-Gesellschaft?
Wir reisen beispielsweise nach Rumänien und halten Vorträge.

Ich bin jetzt von etwas Spannenderem ausgegangen.
Das ist spannend! Dort wurde zum Beispiel in einem Vortrag die Theorie aufgestellt, dass Arthur Conan Doyle auch Bram Stoker war und es war wirklich nicht falsifizierbar. Das heißt natürlich nicht, dass es stimmt ... Aber es ist wieder genau das Gleiche wie mit dem Donaldismus und anderen Ausprägungen: All diese schrägen Subkultur-Sachen sind ein Teil des erwähnten Wahnsinns – und wenn ich dessen Facetten nicht kennen würde, könnte ich keine Kriminalfälle bearbeiten.
 

Mit herzlichem Dank an Dennis Kunert und die Redaktion des Stadtgeflüster Münster für die Freigabe und die Genehmigung zur Veröffentlichung.